© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/15 / 22. Mai 2015

Wer würde schon für Narwa sterben wollen?
Rußland und der Putinismus: Walter Laqueur hält die weitere Eskalation infolge von Moskaus Osteuropa-Politik für realistisch
Friedrich-Wilhelm Schlomann

Der Deutsche-Amerikaner Walter Laqueur, einer intimer Kenner der neueren russischen Geschichte, zeichnet in seinem neuesten Buch ein umfassendes Bild über die verschiedensten Aspekte des heutigen Regimes. Der „Putinismus“, wie er es nennt, basiert auf einem Staatskapitalismus unter Oberaufsicht der Staatsorgane und stellt eine Diktatur dar, die indes vom Vertrauen der breiten Mehrheit unterstützt wird; allerdings ist Putins Macht nicht grenzenlos.

Seine bisherigen Erfolge beruhten primär auf einer Verbesserung der allgemeinen Finanzlage, die indes allein der verstärkten Nachfrage nach Erdöl und Erdgas zu verdanken ist. Daß der unglückliche Übergang vom innerlich längst verfaulten Kommunismus zum jetzigen Regierungssystem vor seiner Zeit erfolgte, war ebenfalls ein großer Vorteil für ihn. Ein sehr positives Echo im russischen Volke, das überaus nationalistisch eingestellt ist, findet seine aggressive Außenpolitik mit der Rückgewinnung von Gebieten der früheren Sowjetunion.

Die Opposition, die hauptsächlich von der Intelligenzija und der dünnen Mittelschicht unterstützt wird, richtet sich besonders gegen die Korruption und die fehlende politische Freiheit. Ihre Schwäche ist die Zersplitterung in viele Gruppierungen. Hinzu kommt das faktische Informationsmonopol der Regierung: Sie kontrolliert das Fernsehen, eine freie Presse besteht nur sehr begrenzt. Das Internet, das viele Russen benutzen, soll bald durch ein „nationales Internet“ geschlossen werden.

Die Uneinigkeit der Nato sehen die Falken als Chance

Die Hoffnung, angesichts der Sanktionen des Westens würden die Oligarchen sich gegen Putin auflehnen, hat der Autor nicht: Das Kreml-System sei nicht gegen sie eingestellt, sehr wohl aber gegen deren politische Aktivitäten, sofern diese nicht Moskau unterstützten. Es gibt eine Gruppe von Superreichen, auf deren bedingungslose Loyalität sich Putin völlig verlassen kann – was sich indes vielleicht auch ändern könnte. Lange hatte der Westen erwartet, Rußland werde den Weg zur Demokratie gehen – für Laqueur naives Wunschdenken und völlige Verkennung der dortigen Mentalität! Westliche Demokratien erachtet man als dekadent und schwach, das Leitbild ist der starke Staat.

Die Osterweiterung der Nato wird argwöhnisch als Provokation beobachtet. Immer wieder behauptet Putin, der Westen habe 1990 versichert, sie nicht weiter auszudehnen. Gorbatschow verlangte zwar eine solche Zusage, erhielt sie jedoch niemals, stattdessen wurden massive westdeutsche Wirtschaftshilfen zugesagt. Nach Ansicht einer vom Verfasser so titulierten russischen „Friedenspartei“ steht das Land heute auf dem Höhepunkt seiner Macht. Man bejaht auch die neue Militärdoktrin Moskaus, die eine Schutzpflicht gerade für Russen im nahen Ausland beinhaltet. Rußland solle seine Interessen hart verteidigen, jedoch lediglich mit politischem und wirtschaftlichem Druck. Einen Krieg mit dem Westen lehnt diese Gruppierung ab. Als äußerst gefährlich hingegen muß das Weltbild der vom Autor zu Recht so bezeichneten „Kriegspartei“ erachtet werden. Nach ihr ist jetzt der richtige Zeitpunkt, einen Großteil des Einflusses Sowjetrußlands zurückzugewinnen. Das Risiko sei dabei gering: Die Nato wäre uneins, die Stimmung in den USA gegenwärtig tendenziell sogar defätistisch. Selbst ein begrenzter atomarer Schlag gegen ein Ziel in Osteuropa würde kaum eine Vergeltung der USA auslösen.

Welche Ansicht der Autor zu dieser überaus risikovollen Unterstellung hat, läßt er leider offen. Dieses Schweigen irgendwie deuten zu wollen, wäre spekulativ. Jene russischen Kreise jedenfalls glauben, wie 1939 im Westen die Parole „Sterben für Danzig?“ dominierte, so werde man heutzutage sich fragen: „Mourir pour Narva?“ (das Zentrum der russischen Minderheit in Estland). Das Ausbleiben einer angemessenen Reaktion der westlichen Welt würde in weiterer Folge wahrscheinlich das Ende der Nato bedeuten und das Ansehen der Vereinigten Staaten weiter verringern. Wenn Putin indes nicht handelt, würde er nach der Meinung dieser Kreise eine große Chance versäumen.

Laqueur weiß allerdings auch nicht, welche Denkart bei Putin Gehör finden wird, wann und in welcher Richtung es in Rußland zu größeren Veränderungen kommen wird. Ob es überhaupt in Rußland zu größeren Richtungsänderungen kommen wird, ist momentan nur von der undurchschaubaren Person des großen Staatslenkers in Moskau anhängig. Laqueurs Versicherung, keiner wolle den globalen Atomkrieg, ist für den Leser allerdings nur ein schwacher Trost.

Walter Laqueur: Putinismus. Wohin treibt Rußland? Propyläen Verlag, Berlin 2015, gebunden, 336 Seiten, 22 Euro