© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/15 / 22. Mai 2015

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weissmann

Abweichung A: Das ganz große Einvernehmen darüber, wie der 8. Mai zu sehen ist, wird nur noch von Putin und ein paar dissidenten Deutschen gestört. Letztere sind kein Faktor von Gewicht, ersterer schon, insofern er darauf besteht, das Geschehen nicht abstrakt als Sieg des prinzipiell Guten über das prinzipiell Böse zu feiern, sondern konkret als Triumph seiner Nation – der russischen – über eine andere – die deutsche. Die Wächter des Befreiungskonsensus beunruhigt das, weil jede Erinnerung daran, was sich tatsächlich im Frühjahr 1945 abgespielt hat, ihre Deutung in Frage stellt.

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Bemerkenswerter noch als die Konversion der jüngeren Schwester Bernard-Henri Lévys vom Judentum zum Katholizismus ist der Kommentar des Agnostikers: „Das ist ein Bruch in der vieltausendjährigen Geschichte der Lévys, wie er ohne Zweifel noch nicht vorgekommen ist.“

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Abweichung B: „Objektiv, d. h. nach Maßgabe derer, die über Große Politik befanden und entschieden, war Befreiung und gar Volksherrschaft (‘Demokratie’) für die Deutschen nicht das Kriegsziel gewesen, sondern bestenfalls Mittel zur dauerhaften Sicherung des längerfristigen, des eigentlichen Projektes: der Ausschaltung des Deutschen Reiches als konkurrenzfähige Großmacht (oder, richtiger, als europäische Hegemonialmacht). Und dieses Kriegsziel wurde ja schließlich auch erreicht.“ (Ekkehart Krippendorff, Leitfigur der APO in Berlin, Vordenker der Neuen Linken)

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Abweichung C: „Nach den Maßstäben des späteren Nürnberger Prozesses“ hätten die Führer der Siegermächte allesamt „hängen müssen. Stalin zumindest für Katyn, wenn nicht überhaupt, Truman für die überflüssige Bombardierung von Nagasaki, wenn nicht schon von Hiroschima, und Churchill zumindest als Ober-Bomber von Dresden, zu einem Zeitpunkt, als Deutschland schon erledigt war. Alle drei hatten ‘Bevölkerungsumsiedlungen’ verrückten Ausmaßes beschlossen, alle drei wußten, wie verbrecherisch diese vor sich gingen.“ (Rudolf Augstein, Herausgeber des Spiegel)

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Der Bürgermeister der südfranzösischen Kleinstadt Béziers hat etwas Skandalöses getan: Er hat angeordnet, die Zahl der Muslime unter den Schülern festzustellen. Nun zieht er nicht nur die ganze moralische Entrüstung des offiziellen Frankreichs auf sich – wegen der verordneten Religionsblindheit –, sondern auch die Einleitung rechtlicher Maßnahmen. Selbstverständlich hat das alles mit aktuellen Problemen und Fragestellungen zu tun. Trotzdem will die Erinnerung an einen Besuch in Béziers nicht ganz verschwinden und den Moment vor der Gedenktafel für die Ketzer, die man in der Kirche zu Tausenden samt und sonders verbrannte, im Namen des einzig richtigen Glaubens und von der Hand jener, die aus der Zentrale im Norden gekommen waren.

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Der Vorsitzende des Islamischen Rates im Kongo, Abdoulaye Djibril Bopaka, hat Verständnis dafür geäußert, daß die Regierung seines Landes das Tragen einer den ganzen Körper verhüllenden Kleidung untersagt, weil, so seine Begründung, „es Beweise dafür gibt, daß Nichtmuslime sie benutzten, um hinter dem Schleier Verbrechen zu begehen“.

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Abweichung D: „Wie wurde nun, sei es der Tag von Waterloo, sei es die Unterzeichnung der folgenden Kapitulation, von den Franzosen begangen, nach zehn, nach fünfundzwanzig, nach vierzig oder fünfzig Jahren? Überhaupt nicht. Waren es Trauertage oder Freudentage oder beides, das eine aber mehr als das andere? Die Frage stellte sich nicht, und das war gut so: sie hätte nur zu neuen Irrungen und innerer Streiterei geführt.“ (Golo Mann, Historiker, Emigrant während der NS-Zeit)

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Das Gejammer über die Folgen des Kita-Streiks ist noch unerträglicher als das Lamento über den Stillstand der Züge. Im einen wie im anderen Fall hat man die natürliche Ordnung der Dinge verkannt: die notwendige Aufzucht der Kinder durch die Eltern, vor allem die Mütter, und den notwendigen Beamtenstatus des Lokomotivführers.

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Abweichung E: „Unser ‘kollektives Ich’ steht im Schatten einer Blutschuld, die nicht einfach vergessen werden kann. Das allerdings hat die Nachkriegsgeneration versucht, indem sie sich fast dem wirtschaftlichen Wiederaufbau hingab und die Schuldfrage weitgehend verdrängte. Die nachfolgende 68er Generation hat den Schulddiskurs dann im Gegenzug so ausgeweitet, daß er neurotische Dimensionen annahm: Nachgeborene wurden zu Quasi-Schuldigen gemacht. Bei den Bürgern entwickelte sich daraus geringe Selbstachtung und ein vermindertes Ja zur eigenen Nation.“ (Joachim Gauck, evangelischer Geistlicher, Bürgerrechtler in der DDR, Beauftragter für die Stasi-Unterlagen, noch nicht Bundespräsident)

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 5. Juni in der JF-Ausgabe 24/15.