© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/15 / 22. Mai 2015

CD-Kritik: Dmitri Schostakowitsch
Doppelleben
Jens Knorr

Schostakowitschs Poem für Baß, gemischten Chor und großes Orchester nach einem Gedicht von Jewtuschenko „Die Hinrichtung des Stephan Rasin“ von 1964 kann als Abrechnung mit dem Stalinismus gelesen und gehört werden. Sein Oratorium „Das Lied von den Wäldern“ von 1949 und seine Kantate „Über unserer Heimat strahlt die Sonne“ von 1952 lassen nur mit Mühe die – in der Tat meisterhafte – Zurichtung ausgelutschter musikalischer Allgemeinplätze als Verzweiflungstaten des Genies erfühlen. Es waren eben diese Werke, die bis dahin indizierten Partituren des verfemten Komponisten die Türen der Konzertsäle öffneten – und die für lange Jahre das Bild des in Sankt Petersburg geborenen Staatskomponisten Dmitri Schostakowitsch (1906–1975) in Ost mit positiver und West mit negativer Konnotation bestimmten.

Doch so wie jene gehören auch diese Partituren zu Schostakowitschs musikalischer Biographie. Dirigent Paavo Järvi hat sie mit dem Estnischen Nationalen Sinfonieorchester, estnischen Chören, Tenor Alexei Tanovitski und Bassist Konstantin Andreyev konzertant zur Diskussion gestellt, ganz ohne denunziatorische Attitüde.

Wer sich „volkstümliche“, „harmonische“ Musik lyrisch-heroischen Einschlags mit stalinorgelnder Schlußapotheose wünscht, wird hier fündig. Wer wahrhaftige Musik sucht, aber auch.

Dmitri Schostakowitsch Kantaten Erato 2015 www.paavojarvi.com