© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/15 / 22. Mai 2015

„Der Strom reißt nicht ab“
Kann ein Militäreinsatz der EU gegen die Schlepper an der afrikanischen Küste die Flüchtlingskrise lösen? Der Marine-Experte und ehemalige Nato-Planer Dieter Stockfisch ist skeptisch.
Moritz Schwarz

Herr Stockfisch, kann der geplante EU-Militäreinsatz das Flüchtlingsproblem lösen?

Stockfisch: Nicht die Ursachen des Problems, wohl aber die Auswirkungen durch Rettung aus Seenot und Bekämpfung der kriminellen Schlepperbanden. Die geplanten Maßnahmen könnten zudem den Zustrom von Flüchtlingen verringern. Es ist also nicht so, daß sie nichts bringen würden. Nur lösen können sie das ursächliche Problem nicht.

Warum nicht?

Stockfisch: Weil die Ursachen für die Flucht der Menschen in den Herkunftsländern liegen.

Wäre es dann nicht eigentlich Aufgabe der Marinen der afrikanischen Staaten, ihre Bürger vor dem Ertrinken zu bewahren?

Stockfisch: Eigentlich ja. Aber offenbar kümmert die das eben nicht.

Ist denn der geplante EU-Militäreinsatz überhaupt realistisch?

Stockfisch: Liegt der politische Wille zum Einsatz vor, kann dieser grundsätzlich ermöglicht werden. Aber dafür müssen von den EU-Marinen ausreichend Einheiten für lang andauernde Einsätze generiert werden. Da aber könnten sich Probleme abzeichnen.

Nämlich?

Stockfisch: Nach dem Kalten Krieg wurden die Marinen stark reduziert. Und die Einheiten, über die die Europäer noch verfügen, sind zum großen Teil bereits in anderen Einsätzen aktiv.

Können sie nicht einfach von da abgezogen werden?

Stockfisch: Natürlich können wir Schiffe verfügbar machen, aber das geht nicht aus dem Stand. Und schließlich soll der Einsatz bereits im Juni beginnen. Nehmen Sie als Beispiel die Deutsche Marine. Wir unterhalten insgesamt noch etwa fünfzig Einheiten. Allerdings sind nicht alle für solche Unternehmen geeignet. Konkret verfügen wir diesbezüglich über etwa 15 Fregatten und Korvetten und drei Einsatzgruppenversorger, die – was für so einen Einsatz nötig ist – mit Hubschraubern ausgerüstet sind. Allerdings gilt die Faustregel: Es braucht drei Schiffe, um eines im Einsatz zu haben! Warum? Weil eines in Überholung, eines in Ausbildung und nur eines im Einsatz ist. Jetzt können Sie selbst ausrechnen, wie viele Schiffe Deutschland tatsächlich in Einsatz bringen kann. Dazu kommt, daß die tatsächlich einsatzfähigen Schiffe bereits durch andere Einsätze gebunden sind, etwa durch die Mission „Atalanta“ am Horn von Afrika, zu der wir ständig zwei bis drei aktive Einheiten beisteuern. Es ist also nicht so, wie sich das der Laie vielleicht vorstellt, daß wir über Reserven verfügen, die auf Reede liegen und nur auf den Einsatz warten.

Zwei Schiffe wurden doch bereits kurzfristig und offenbar problemlos zur Flüchtlingsrettung ins Mittelmeer verlegt.

Stockfisch: Die Fregatte „Hessen“ und der Einsatzgruppenversorger „Berlin“ wurden aus dem Einsatzausbildungsverband der Marine abgezogen und zur Rettung von Flüchtlingen im Mittelmeer eingesetzt. Noch einmal: Ich sage nicht, daß es nicht möglich ist, die geplante Mission mit Schiffen zu bestücken. Ich sage aber, daß es sehr wohl unsere Kapazitäten überfordert. Zumal solche Einsätze ja nicht Tage oder Wochen, sondern meist Monate oder Jahre dauern.

Ist der Einsatz rechtlich überhaupt möglich?

Stockfisch: Das ist die andere große Frage, denn Voraussetzung wäre ein UN-Mandat. Das aber könnte im Sicherheitsrat an Rußland oder China scheitern.

Experten warnen, die Erfahrung des Mißbrauchs des UN-Mandats 2011 in Libyen – als die Bewilligung einer Flugverbotszone von den Europäern zum Eingriff in den Bürgerkrieg dort genutzt wurde – könnte deren Zustimmung nun gefährden.

Stockfisch: Das ist Spekulation, sicher aber ist, daß es nicht einfach wird.

Kann sich die EU über ein fehlendes Mandat nicht hinwegsetzen?

Stockfisch: Das wäre völkerrechtlich unklug und illegitim.

Die Politik verweist in der Debatte auf den Erfolg der Mission „Atalanta“. Zu Recht?

Stockfisch: Einerseits hat „Atalanta“ in der Tat gezeigt, daß solche Einsätze erfolgreich sein können: 2008 zur Bekämpfung der Piraterie vor der Küste von Somalia begonnen, zeigte „Atalanta“ zunächst nicht zufriedenstellende Wirkung. Daraufhin wurde sie mit einem robusten UN-Mandat ausgestattet, um auch an Land in einem Küstenbereich mit 2.000 Metern Tiefe gegen Piratennester vorgehen zu können. Das hat sich als sehr wirksam erwiesen.

Wo ist dann das Problem?

Stockfisch: Die Bekämpfung der Piraterie richtet sich gegen akute Bedrohungen der internationalen Schiffahrt. Von den Schlepperbanden im Mittelmeer geht an sich keine Bedrohung aus. Sie verursachen aber das Flüchtlingsproblem, das die EU zum Handeln veranlaßt. Dazu kommt, im Mittelmeer gibt es Zigtausende von Booten – unter denen man erst mal die Schlepperboote identifizieren muß. Wie will man unterscheiden, welches Boot einfach Privatbesitz ist und welches heute nacht vielleicht zu kriminellen Zwecken mißbraucht wird? Dazu kommt, es ist nicht auszuschließen, daß bei militärischen Einsätzen in den Hoheitsgewässern vor Libyen die EU-Einheiten in Kämpfe mit den Milizen oder Schlepperbanden verwickelt werden könnten.

Wo würden wir da hineingezogen werden?

Stockfisch: Das kann niemand vorhersagen.

Wie groß ist die Gefahr?

Stockfisch: Das ist spekulativ.

Ist ein wirklich robuster Einsatz überhaupt durchzuhalten? Oder wird die nötige militärische Härte möglicherweise zu Protesten in der europäischen Öffentlichkeit führen?

Stockfisch: Das ist durchaus denkbar. Wir leben in einer „pazifizierten“ Gesellschaft, die allem Militärischen sehr skeptisch gegenübersteht. Zumal manche Stimmen von „Gutmenschen“ ein militärisches Eingreifen grundsätzlich ablehnen, aber statt dessen lieber einfach die Grenzen aufmachen würden.

„Schiffe versenken statt Menschen retten“ höhnen die Grünen.

Stockfisch: Unsinn, Menschen retten, darum geht es!

Sie sagten zu Beginn, der Einsatz könne das Problem nicht lösen, sondern nur mildern.

Stockfisch: Wir doktern im Grunde am Symptom herum, nicht an der Ursache.

Wird der Einsatz nicht vielleicht sogar dazu führen, daß sich das Problem verschärft?

Stockfisch: Inwiefern?

Kritiker warnen, Einsätze wie sie die „Hessen“ und die „Berlin“ bereits leisten, locken noch mehr Flüchtlinge an.

Stockfisch: Solche Argumente sind nicht auszuschließen. Deshalb sollen nach dem Willen der EU die Schlepperboote möglichst vor dem Start zerstört werden. Ob das gelingt? Man kann es nur hoffen.

Die große Mehrheit der Flüchtlinge sind nicht asylberechtigt. Tatsächlich handelt es sich um illegale Einwanderer. Seenotrettung ist das eine, aber macht sich die Marine nicht gleichzeitig selbst zum Schlepper?

Stockfisch: Für uns sind es zunächst einmal Menschen in Seenot – und die müssen eben gerettet werden. Das ist ein Grundsatz des Menschenrechts.

Das ist aller Ehren wert, aber gleichzeitig leistet die Marine doch Beihilfe zu einer illegalen Handlung. Diesen Aspekt können Sie doch nicht einfach ausblenden.

Stockfisch: Das ist sehr zugespitzt. Nun, eigentlich soll die europäische Grenzschutzorganisation Frontex illegale Einwanderung unterbinden.

Noch zugespitzter: Müßte Frontex also die Besatzungen von „Hessen“ und „Berlin“ nun eigentlich verhaften?

Stockfisch: Ich sehe keinen Sinn darin, wenn Sie die Frage immer zugespitzter formulieren. Der Punkt ist, daß sich die Problematik der illegalen Einwanderung durch die Katastrophen in den Herkunftsländern so verschärft hat, daß es inzwischen vor allem um Menschenrettung geht.

Wie erklären Sie dem europäischen Bürger, daß er keine Gesetze brechen darf – auch ein frierender Obdachloser darf weder einbrechen noch Lebensmittel stehlen. Illegalen Einwanderern aber wird der Gesetzesverstoß nachgesehen und sogar erleichtert. Kann man diesen Aspekt – bei aller berechtigten Vorrangigkeit der Seenotrettung – wirklich gänzlich außer acht lassen?

Stockfisch: Die Frage kann man stellen. Und ich kann mir denken, daß manche Bürger sie sich stellen. Doch die Menschen in Seenot wollen gerettet werden und Asyl erhalten, sie fühlen sich keineswegs als „Gesetzesbrecher“.

Wie verantwortungsbewußt sind Rettungsaktionen, wie die der „Hessen“ und „Berlin“, die mehr Menschen aufs Wasser und mehr Flüchtlinge nach Europa locken?

Stockfisch: Das ist Spekulation. Die Rettung von Menschen aus Seenot, darum geht es, ist ein moralisches Gebot. Ob dadurch Menschen nach Europa gelockt werden, ist eine Frage, die erst einmal untersucht werden muß. Aber diese Frage kann nicht unbeantwortet bleiben.

Die letzte große Katastrophe, mit Hunderten Toten, wurde gerade durch die Rettungsaktion eines Frachters ausgelöst, mit dem das Flüchtlingsschiff dabei kollidierte.

Stockfisch: Das war ein tragischer Einzelfall. Wir sind laut Artikel 98 des UN-Seerechtsübereinkommens sogar rechtlich verpflichtet, Personen die wir auf See in Lebensgefahr antreffen, zu retten.

Das ist selbstverständlich. Aber wie verträgt es sich mit der Seemannsmoral, mitverantwortlich dafür zu sein, Menschen überhaupt erst in Seenot zu locken?

Stockfisch: Daß Menschen in eine Seenotlage gelockt werden könnten, wie Sie behaupten, hat mit der Seemannsmoral nichts zu tun. Menschen in Seenot müssen gerettet werden, unabhängig davon, wie sie in eine solche Lage geraten sind.

Warum kann die Marine die Schiffbrüchigen nicht zurück nach Afrika bringen?

Stockfisch: Weil sie dort am Strand völlig unversorgt wären.

Nachvollziehbar. Andererseits: Beinhaltet die traditionelle seemännische Verpflichtung zur Rettung aus Seenot tatsächlich auch die Nachversorgung an Land?

Stockfisch: Ich glaube, das Problem ist, daß weder unser Asylrecht noch die Seenotrettung je für einen solchen Massenandrang von Flüchtlingen gedacht waren, sondern tatsächlich für Menschen, die zufällig in Not geraten. Nun aber sehen sich diese ethischen Errungenschaften einem Phänomen gegenüber, auf das sie nicht vorbereitet sind. Ging in der christlichen Seefahrt ab und zu ein Schiff unter, handelte es sich höchstens um ein paar hundert Hilfsbedürftige. Heute aber sind es 450.000 Flüchtlinge, die von uns gerettet werden wollen, und der Strom reißt nicht ab.

Mißbrauchen dann aber nicht jene Politiker das Argument des politischen Asyls und der Seenotrettung, die damit eigentlich nur illegale Einwanderer legitimieren wollen?

Stockfisch: Nein, das ist eine zugespitzte Unterstellung. Auch den Politikern in Verantwortung geht es vorrangig um die Rettung von Flüchtlingen aus Seenot.




Dieter Stockfisch, der Kapitän zur See a.D. war von 1989 bis 1993 Planer für den Marineeinsatz im Nato-Hauptquartier Europa-Nord in Oslo, außerdem war er Referent beim Parlamentarischen Staatssekretär im Bundesministerium der Verteidigung und Referatsleiter (Einsatz und Planung der Flotte) im Führungsstab der Marine. Heute publiziert der freie Journalist, Jahrgang 1940, als Experte für Marine und Sicherheitspolitik in Fachzeitschriften und ist verantwortlicher Redakteur des Standardwerks „Der Reibert“, des Handbuchs für den deutschen Soldaten.

Foto: Deutsches Kriegsschiff im Einsatz im Mittelmeer: „Manche ‘Gutmenschen‘ lehnen ein militärisches Eingreifen grundsätzlich ab und würden statt dessen lieber die Grenzen aufmachen“


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