© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/15 / 15. Mai 2015

Das Nahe so fern
Nachkriegsverbrechen und Vertreibung an der Neiße: In der schlesischen Grenzstadt Görlitz ist dieses Schicksal bis heute gegenwärtig
Paul Leonhard

Das niederschlesische Görlitz ist seit 1945 eine geteilte Stadt. Während die historische Altstadt zu Deutschland gehört, ist die Oststadt polnisch. Nach dem EU-Beitritt Polens und dem Wegfall der Grenzkontrollen träumte die Görlitzer Stadtregierung von einem Zusammenrücken der Schwesterstädte und proklamierte – selbstverständlich mit Genehmigung des Nachbarn und zu einem Zeitpunkt, als man jenseits der Neiße noch immer von „wiedergewonnenen Gebieten“ sprach – den Phantasienamen „Europastadt Görlitz/Zgorzelec“. Daß Deutsche und Polen in der Neißestadt seit Jahrzehnten eher nebeneinander als miteinander leben, hängt auch mit einem auf beiden Seiten verdrängten Kapitel der Vergangenheit zusammen: der Zeit zwischen dem 8. Mai 1945 und Februar 1946.

Als Anfang März 1945 die Front bei Lauban zum Stillstand gekommen war (JF 10/15), hatten die Görlitzer gehofft, die Amerikaner würden doch noch vor den Russen ihre Stadt erreichen. Ein Teil der evakuierten Bevölkerung kehrte zurück. „Drohte nicht das Gespenst der Roten Armee, würden sich alle über die Auflösung des Dritten Reichs freuen“, notiert der katholische Priester Franz Scholz („Görlitzer Tagebuch. Chronik einer Vertreibung 1945/46“, Berlin 1993). Am 6. Mai wird die Stadt unter Artilleriebeschuß genommen. Großbrände brechen aus. In der folgenden Nacht rückt die Wehrmacht ab. Um der von Nordwesten in die Stadt einsickernden Roten Armee das Nachrücken zu erschweren, werden die Neißebrücken gesprengt.

Am 8. Mai, den die bundesdeutsche Politik heute als „Tag der Befreiung“ feiert, bricht die Katastrophe über die verbliebenen rund 30.000 Görlitzer herein. Augenzeuge Scholz schreibt: „Unzählige Züge von frei schwärmenden, Frauen und Beute suchenden Rotarmisten sind unterwegs. Dazu stoßen die Kriegsgefangenen aus dem Stalag VIIIa in Görlitz-Moys. Sie wurden sofort freigelassen und mußten sich beim Beutesuchen wegen der Sprengung aller Brücken zunächst auf das kleine Görlitz-Ost beschränken. Das Einschlagen der Türen, Schrankfüllungen, das Hilfeschreien der vergewaltigten Frauen gellt durch die Nacht.“

Es sind Erfahrungen, wie sie bereits die Ungarn, Rumänen, Slowaken, Ostpreußen, Schlesier und Pommern machen mußten, mit dem Unterschied, daß Deutschland inzwischen kapituliert hatte. „Das Plündern entwickelt sich zum System. Lkw fahren vor die Häuser, alles wird verladen. (...) Die Ostvölker zeichnen sich durch einen unheimlichen Instinkt für verborgene Frauen und versteckte Wertgegenstände aus“, notiert Scholz für den 9. Mai und fügt resigniert hinzu: „Manche Mutter opfert sich, um ihrer 12- bis 15jährigen Tochter die Schmach zu ersparen. Selbst 70jährige Frauen und Ordensschwestern werden – oft viele Male am Tage – vergewaltigt. Es ist nicht abzusehen, wann dieses Chaos und die Willkür einer brutalen Soldateska ein Ende nehmen wird. Der Deutsche hat aufgehört, Rechtssubjekt zu sein: Seine Ehre, sein Leib, sein Leben und sein Eigentum stehen einem übermütigen Sieger gnadenlos zur Verfügung.“

55.000 Vertriebene mußten 1945 in Görlitz ausharren

In den folgenden Wochen nehmen zwar die brutalen Übergriffe ab, dafür füllt sich der Westteil der Stadt mit aus ihrer Heimat vertriebenen Schlesiern, wo bereits das polnische Militär die Macht übernommen hat. Dieses beginnt systematisch einen 30 Kilometer breiten Streifen östlich der Neiße von allen Deutschen zu säubern. Gleichzeitig kommen immer mehr Flüchtlinge in die Stadt, die in ihre schlesische Heimat zurückkehren wollen. 55.000 sind es schließlich. Da Lebensmittellager und das Vieh in den Dörfern von der Roten Armee abtransportiert wurden, wüten Hunger und Typhus in Görlitz.

Im August werden Stadt und Landkreis zum Notstandsgebiet erklärt. Einen Tag vor Weihnachten schließen die Russen ihrerseits die Grenze für den Flüchtlingsstrom, der sich seit Mai aus dem Osten über die Stadt ergießt. In der Oststadt, die jetzt Zgorzelec heißt, spielen sich unvorstellbare Szenen ab: „Alle hier vegetierenden, verängstigten Deutschen haben nur eine einzige Sehnsucht: hinweg aus dem Machtbereich dieses Terrors. Deutsch-Görlitz mit seinen so nahen Häusern und Türmen ist Symbol für Deutschland, für das Land, in dem man nicht zum Verkümmern verurteilt ist, nur weil man eine deutsche Mutter hatte und die deutsche Sprache spricht“, schreibt Priester Scholz Anfang 1946. Später schreibt er im Vorwort seines veröffentlichten „Görlitzer Tagebuchs“: „Versöhnung duldet keine billige, vielleicht sogar feige Verdrängung.“ Voraussetzung für eine Aussöhnung zwischen Polen und Deutschen sei der „Mut zur unangenehmen Wahrheit“. Dieser haben sich bisher nur die wenigsten gestellt.

Allein die Frage, was die vertriebenen Görlitzer empfunden haben mögen, die seit 1945 auf ihre Häuser jenseits der Neiße sehen konnten, die vielleicht noch heute ihren einstigen Besitz in Zgorzelecer Wohnungen stehen sehen, wurde nie thematisert. „Die Vertriebenen hatten über den Fluß hinweg stets das Land vor Augen, aus dem sie vertrieben waren“, heißt es in der Einleitung der 2013 erschienenen zweisprachigen Chronik „Zuhause an der Neiße. Görlitz und Zgorzelec 1945–1989“: „Die Zeit heilte hier die Wunden eben nicht, die Erinnerungen blieben lebendiger, und die Atmosphäre in der DDR ließ die notwendige Reflexion nicht zu.“

Foto: Görlitzer Altstadt, im Hintergrund die Neiße und die 1945 abgetrennte östliche Vorstadt: Hilfeschreie nach dem 8. Mai