© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/15 / 15. Mai 2015

Die Wahrheit fällt unter den Tisch
Im Boulevard kopiert einer vom anderen – und viele reichern ihre Informationen phantasievoll an
Elena Hickman

Es war eine unwiderstehliche Geschichte: Ein russischer Angler wird in der Wildnis von einem Bären angefallen. Während der Attacke fängt das Handy des Russen plötzlich an zu klingeln. Der Bär ist davon so erschrocken, daß er wegläuft. Der Klingelton, der dem Angler das Leben rettet: Justin Biebers Lied „Baby“.

Die Geschichte der unglaublichen „Justin-Bieber-Rettung“ wurde in England, Amerika, Australien und auch in Deutschland (Bild, Focus) veröffentlicht. Sie wurde tausendfach in sozialen Netzwerken geteilt und schaffte es sogar in eine amerikanische Talkshow. Das Problem war nur – die Geschichte stimmte so gar nicht.

Zwar gibt es den russischen Angler tatsächlich, und er wurde auch von einem Bären angefallen. Bei der Erstveröffentlichung in der russischen Tageszeitung Komsomolskaja Prawda steht allerdings noch nichts von Justin Bieber und seinem lebensrettenden Lied. Statt dessen berichtet der Artikel, das Handy des Russen sei darauf eingestellt gewesen, die aktuelle Uhrzeit anzusagen. Das habe den Bären verschreckt.

Was ist also mit dieser Geschichte passiert, daß sie sich von einer russischen Tageszeitung bis hin zur deutschen Boulevard-Szene so weiterentwickelt hat? Sie durchlief die wundervolle Welt der Agentur Central European News (CEN).

Am 31. Juli überlebte der Angler die Bären-Attacke. Fünf Tage später griff die austriantimes.at, eine Webseite von CEN-Gründer und Inhaber Michael Leidig, die Geschichte auf und ergänzte sie mit dem Detail des Justin-Bieber-Klingeltons. CEN verkaufte die „erweiterte“ Geschichte an die Daily Mail, von dort gelangte sie in andere Nachrichtenmagazine und auch bis nach Deutschland.

Eigentlich ist der in Österreich lebende Leidig ein gut vernetzter, britischer Enthüllungsjournalist, der sich an echten Themen abarbeitet. 2014 erschien sein Buch „Mythos Madoff“ über den Finanzjongleur auf deutsch. Er hat mehrere Reiseführer verfaßt. Sein größter Coup war ein Buch über Natascha Kampusch, das in mehrere Sprachen übersetzt worden ist. Während und nach seinen Recherchen im Fall Madoff ist er von österreichischen Finanzbehörden drangsaliert worden. Er verdächtigt die SPÖ dahinterzustecken: Führende Sozialdemokraten waren Madoffs Geschäftspartner und haben auf diese Weise Druck auf ihn ausüben wollen. „Meine Steuerberaterin wurde wochenlang von ihnen ausgequetscht“, berichtete Leidig bei einem Auftritt in Wien.

Leidig arbeit in Wien, aber der Firmensitz ist in England. Nach eigener Aussage beschäftigt CEN 35 Mitarbeiter in Mittel- und Osteuropa. Ihre Geschichten verkauft die Agentur an Abnehmer weltweit. Diese Storys sind häufig bizarr, grauenvoll oder anzüglich – und im besten Fall alles davon. Wenn Leser von Boulevardzeitungen eine verrückte Geschichte aus einer abgelegenen Region lesen, in der jemand seinen eigenen Penis abschneidet, nackt aus einem Fenster hängt oder eine Ziege mit zwei Köpfen hat, ist die Wahrscheinlichkeit groß, daß sie von CEN kommt.

Drei Journalisten des Online-Nachrichtenportals Buzzfeed haben die Arbeitsweise von CEN analysiert. Dafür haben sie 41 Geschichten untersucht, die besonders verrückt klangen. Ihr Ergebnis: Elf waren falsch oder mit Fotos bebildert, die nicht zum Inhalt paßten. Acht hatten verdächtige Details wie Zitate, die in sonst keinem anderen Bericht des Vorfalls erschienen sind. 13 konnten nicht nachgeprüft werden, und neun waren zum Teil oder komplett richtig.

Viele der Geschichten sind schnell wieder vergessen

Natürlich veröffentlicht CEN auch richtige und wahrheitsgemäße Artikel. Gegenüber der JUNGEN FREIHEIT sagte CEN-Chef Leidig, Buzzfeed sei ein Rivale von CEN, und ergänzte: „Unserer Meinung nach war das, was Buzzfeed gemacht hat, verachtenswert.“ Mehr wollte er nicht sagen. Seine Seite war in der vergangenen Woche vorübergehend abgeschaltet.

Das wiederum verneinen die Journalisten von Buzzfeed. Ihrer Meinung nach gehören viele Geschichten in die Kategorie „zu gut, um sie nachzuprüfen“. Die Frage nach der Wahrheit falle schon mal unter den Tisch. Wie die Geschichte der jungen Chinesin, die anbietet, mit Männern zu schlafen, um damit eine Reise zu finanzieren. Das Ganze war ein Werbegag einer chinesischen Firma, die für eine Dating-App warb. CEN griff die Geschichte auf und verkaufte sie als wahr. Oder der Artikel über die argentinische Lehrerin, die Sex mit ihrem Schüler gehabt haben soll und das Video davon auf einer Porno-Seite veröffentlichte. Schon Wochen bevor CEN den Bericht verbreitete, widerlegte eine argentinische Zeitung ihn. CEN ließ sich davon jedoch nicht abhalten.

Bilder werden von CEN aber nicht nur von anderen Seiten kopiert und weiterverkauft (wie das Bild des russischen Anglers). Sie werden auch mit neuen Geschichten ausgestattet. Beispielsweise die erschreckenden Röntgenbilder eines Mannes, der angeblich zuviel Sushi gegessen hatte und deshalb überall in seinem Körper von Würmern befallen war. Die Rechte an den Bildern lagen natürlich bei CEN. Allerdings hatte das British Medical Journal vorher schon ähnliche Bilder veröffentlicht. Der Wurmbefall war in diesem Fall jedoch durch den Verzehr von rohem Schweinefleisch entstanden.

Aber wo liegt jetzt eigentlich das Problem? Die Geschichten sorgen kurz für Aufregung, verschwinden schnell wieder und werden vergessen. Die Vorwürfe gegen CEN sind aber symptomatisch für eine Branche, die den Klicks hinterherhechelt und für gründliche Recherche keine Zeit mehr aufwendet. Der Onlinejournalismus hat die Regeln verschärft.

Im Boulevardbereich kopiert einer vom anderen. Oft ohne eigene Recherche und ohne Quellenangabe. So hat offenbar die Komsomolskaja Prawda als erste die Anglergeschichte mit Foto gebracht. Dann verbreitete CEN diese Story mitsamt Foto. Danach verwies die Daily Mail auf CEN als Quelle und verbreitete die Nachricht. Als die Bild über den Fall berichtete, nannte sie plötzlich Action Press als Quelle. Denn: Die Fotoagentur Action Press wird ebenfalls von CEN beliefert. Kurios: So schaffte es ein Foto aus dem Ex-Organ der kommunistischen Jugendorganisation der Sowjetunion in die Bild.

Das Problem liegt darin, daß durch viele solcher Geschichten in Boulevardmedien die Grenze zwischen Wahrheit und Fiktion verschwimmt. Viele Leser sind schlau genug, sie nicht zu glauben. Manche sind es leider nicht. Und obwohl Menschen immer ihren gesunden Menschenverstand anwenden sollten, sollten sie sich gar nicht erst fragen müssen, ob die Geschichte wahr ist oder nicht. Kunden sollten Zeitungen vertrauen können, die Wahrheit zu erzählen und zu berichten. Wenn sie es nicht können, wird die Integrität der Medien untergraben – oder mit einem bekannten Handy-Klingelton überspielt.