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Beute der Meute
Miriam Gebhardts Buch über die Vergewaltigungen deutscher Frauen durch alliierte Soldaten 1945
Ingo von Münch

Im Jahr 2013 erschien ein von den Konstanzer Wissenschaftlern Aleida und Jan Assmann herausgegebener Sammelband zum Thema „Schweigen“. Obgleich „Erinnerungskultur“ und „kommunikatives Beschweigen“ in dem an sich interessanten und gehaltvollen Werk als Stichworte enthalten sind, findet sich auf den mehr als 300 Seiten mit mehr als 700 Anmerkungen nicht ein einziger Hinweis auf das Beschweigen der Massenvergewaltigungen deutscher Frauen und Mädchen am Ende des Krieges – ein bemerkenswertes Schweigen.

Miriam Gebhardt, eine ebenfalls an der Universität Konstanz lehrende Historikerin und Journalistin, hat nun dankenswerterweise ein umfangreiches, zahlreiche Quellen auswertendes und engagiert geschriebenes Buch über die Vergewaltigungen in der Zeit am Ende des Zweiten Weltkrieges vorgelegt. Das Buch ist in einem angesehenen Verlag erschienen. Die Bild-Zeitung hat, was nicht jeder Neuerscheinung auf dem Büchermarkt vergönnt ist, in einer vierteiligen Serie „exklusive Auszüge“ daraus veröffentlicht. Der Wert des Buches liegt in seiner umfassenden Darstellung in der Form einer Monographie, die nicht nur die Gewalttaten der sowjetischen Soldaten, sondern auch die der anderen, nämlich amerikanischen, französischen und britischen, behandelt.

Schilderungen jener Gewalttaten fanden sich bisher fast immer nur in Berichten über Flucht und Vertreibung oder in Tagebüchern wie dem der Anonyma über den Beginn der Besatzung als ein Teil des Geschehens; dagegen waren systematische Untersuchungen Mangelware; ein Ausdruck des Beschweigens, obwohl die Massenvergewaltigung deutscher Frauen – wie Gebhardt zutreffend feststellt – „ein historisch einmaliges Ausmaß erreichte“.

Die Autorin hat die übersichtlich geschriebene Darstellung nach einer Einführung in fünf Kapitel gegliedert: 1. „Siebzig Jahre zu spät“; 2. „Berlin und der Osten – Chronik eines angekündigten Unheils“; 3. „Süddeutschland – ‘Wer schützt uns vor den Amerikanern?’“; 4. „Schwanger, krank, verfemt – der Umgang mit den Opfern“; 5. „Der lange Schatten“. In allen diesen Kapiteln stößt der Leser auf dezidierte Urteile, die Zuspruch oder Widerspruch finden werden.

Zuspruch verdient das Buch zunächst dafür, daß darin ein Thema gründlich behandelt wird, das – abgesehen von Schilderungen persönlicher Erlebnisse in der Memoirenliteratur – in der breiten Öffentlichkeit bisher viel zuwenig Beachtung gefunden hat. Große Sympathie verdient auch die Empathie der Autorin für die Opfer, die Kritik der Autorin an der Verweigerung der Anerkennung, die Forderung nach Rehabilitierung der Opfer, das Erinnern an die Schutzlosigkeit der Opfer, deren Leiden an einigen Stellen des Buches eindringlich geschildert werden. Vielen Details in dem Buch von Miriam Gebhardt ist zuzustimmen, so der Feststellung, daß kein Befehl der sowjetischen Militärführung bekannt ist, deutsche Frauen zu vergewaltigen, daß nicht nur deutsche Frauen vergewaltigt wurden, sondern selbst russische Zwangsarbeiterinnen, was mit vermeintlichen Rachegefühlen schwerlich zu erklären ist, und daß die Täter Soldaten aller vier Besatzungsmächte waren – am seltensten die Briten.

Begrüßenswert ist auch die Intention der Verfasserin, Verallgemeinerungs-tendenzen entgegenzutreten, die dahin zielen, daß Vergewaltigung „zum Arsenal jedes Krieges“ gehöre. Abwegige Ansichten weist Miriam Gebhardt zu Recht zurück, so die Meinung der US-amerikanischen Historikerin Anita Grossmann, der zufolge durch Vergewaltigungen entstandene Schwangerschaften „fließbandmäßig“ und aufgrund von „Rassismus“ abgebrochen worden seien. Dazu Gebhardt richtig: „Und schon gar nicht haben Frauen leichtfertig und aus rassistischen Gründen abgetrieben; wenn sie es taten, dann wegen existentieller Nöte und aus Angst um ihre Beziehung.“

Wo viel Licht ist, gibt es auch Schatten. Kritische Punkte sind: Die bisher allgemein stets angenommene Zahl von etwa zwei Millionen Vergewaltigungsopfern wird von der Autorin auf rund 860.000 heruntergerechnet, dies aufgrund einer von der Zahl der Besatzungskinder ausgehenden spekulativen Hochrechnung. Darf man dies Revisionismus nennen? Zutreffend erwähnt die Autorin, daß nicht nur russische Soldaten Täter waren, sondern auch andere; nicht haltbar ist aber die Gleichsetzung der Vergewaltigungen im Osten und im Westen („ein nicht wesentlich anderes ‘Drehbuch’“): Sowohl das zahlenmäßige Ausmaß als auch die Brutalität der Handlungen waren durchaus unterschiedlich. Bis Ende 1944 war der größte Teil des Baltikums nach Auffassung der Autorin „befreit“ – die baltische Bevölkerung sah und sieht dies bis heute wohl anders.

Wut durch sexuelle Gewalt an den Frauen ausleben

Zutreffend ist die Feststellung, daß in der DDR die Übergriffe des „Großen Bruders“ „unter den Teppich gekehrt wurden“ ; die entscheidende Rolle Ulbrichts (nachlesbar bei Wolfgang Leonhard, Die Revolution entläßt ihre Kinder, Berlin 1966) wird in diesem Zusammenhang unverständlicherweise nicht erwähnt.

Den Weichspüler benutzt die Autorin auch in bezug auf den sowjetischen Haßprediger Ilja Ehrenburg; dessen Veröffentlichungen seien „längst nicht so eindeutig wie von der westlichen Propaganda behauptet“ – gilt dies auch für den Satz „Für uns gibt es nichts Lustigeres als deutsche Leichen“? Der Gegensatz zu den menschlichen Empfindungen von Lew Kopelew und Alexander Solschenizyn, die beide von der Autorin nicht erwähnt werden, könnte nicht größer sein.

Für die Opfer schwer verständlich (und wohl auch für viele Leser) dürfte der auf die Wahrnehmung der sowjetischen Eroberer gemünzte Gedanke der Autorin sein, „daß es wieder die Dynamik der Interaktion zwischen Deutschen und Sowjets ist, die dazu beiträgt, daß die Dinge zunehmend aus dem Ruder laufen“. Zutreffend ist die Feststellung, daß es nicht „natürlich“ sei, „die Wut auf den Kriegsgegner durch sexuelle Gewalt an den Frauen auszuleben“, und daß den Vergewaltigungsopfern nicht ihr Opferstatus abzusprechen sei, „weil sie der Nation der Aggressoren angehörten“. Die Keule der Political Correctness schlägt allerdings zu, wenn die Autorin schreibt: „Es ist vollkommen klar, daß viele Vergewaltigungsopfer potentiell auch Täterinnen waren. Selbst Kinder waren nicht immer unschuldig, sondern haben sich unter Umständen an Schikanen von Zwangsarbeitern beteiligt, jüdische Mitschüler gemobbt und sich für Angehörige einer Herrenrasse gehalten.“ Woher weiß die 1962 geborene Autorin dies?

Handelt es sich bei einer derartigen Schuldigsprechung nicht um eine unzulässige Verallgemeinerung?, fragt der Rezensent, der (Jahrgang 1932) – anders als die Autorin – die Zeit des Nationalsozialismus selbst erlebt hat. Interessant und problematisch ist schließlich, daß die Autorin auf Befragungen von Betroffenen, also der Opfer der alliierten Übergriffe, verzichtet hat. Steht dies nicht im Widerspruch zu dem Ziel des Buches, „die damaligen Geschehnisse aus der Perspektive der Betroffenen (zu)rekonstruieren“? Den denunzierenden Zusatz „Das heißt, sie nicht zu knetbarem Material für Geschichtspolitik zu machen, wozu sowohl konservative als auch liberale Darstellungen bislang geneigt haben“, darf man in diesem Kontext als ideologische Platitüde abheften.

Prof. Dr. Ingo von Münch ist Verfassungsrechtler, der viele Jahre an der Universität Hamburg lehrte. Zudem ist er Autor des bereits 2009 erschienenen Buches „Frau, komm! Die Massenvergewaltigungen deutscher Frauen und Mädchen 1945/46“ (Ares-Verlag, Graz). Dieses Buch, für das von Münch 2014 der Ostpreußische Kulturpreis verliehen wurde, erwähnt Miriam Gebhardt an keiner Stelle ihres Werkes.

Miriam Gebhardt: Als die Soldaten kamen. Die Vergewaltigung deutscher Frauen am Ende des Zweiten Weltkriegs. DVA, München 2015, gebunden, 352 Seiten, Abbildungen, 21,99 Euro