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Aus zahllosen Wunden blutend
Der Zweite Weltkrieg war für Deutschland die größte Katastrophe seit dem 30jährigen Krieg
Matthias Bäkermann

Bleib übrig!“ Diese Abschiedsfloskel, in der manche Portion Galgenhumor mitschwingt, kursierte in den letzten Kriegswochen im Deutschen Reich. Obwohl die Kämpfe noch tobten und die Bomben noch fielen, ließen die Menschen nun auch die letzten die Illusionen an einen „Endsieg“ fahren und sorgten sich, ihre Haut noch in die bevorstehende unvermeidliche „Stunde Null“ zu retten.

Als dann der Reichssender Flensburg im letzten Wehrmachtsbericht kurz nach Mitternacht des 9. Mai 1945, „in den schwersten Stunden unserer Geschichte“, voller Pathos beschwor, „zuversichtlich an die Arbeit zu gehen für das ewige Leben unseres Volkes“, da waren die Landsleute des „aus zahllosen Wunden blutenden Vaterlands“ bereits auf das Private, oft sogar nur auf die nackte Existenz, zurückgeworfen. Die zahllosen Zeugnisse aus dieser Zeit verraten fast übereinstimmend ein Gefühl: das der mulmigen Ungewißheit.

Und für jedermann galt es nun, die ganz eigene Bilanz zu ziehen: Wer ist am Leben? Wo ist der Ehemann, der Sohn, der Bruder? Wo werde ich morgen sein? Was haben die Sieger mit uns vor? Das Schweigen der Waffen war sicher erleichternd, befreiend war es nicht automatisch. „Und die Nazis im Eimer, dieses Pack“, resümiert Mutter Kempowski in „Tadellöser & Wolff“ zwar am Kriegende, aber das war vielleicht nur ein kleiner Triumph. Auch wenn der NS-Staat und seine Vertreter plötzlich Lichtjahre entfernt waren, gehörte man doch zu den Besiegten. Soviel war sicher!

Millionen Deutsche wurden nach dem 8. Mai noch Opfer

Davon waren nicht zuletzt die Sieger überzeugt und ließen die Deutschen das dicke Ende spüren. Millionen von ihnen konnten sich auch nach dem 8. Mai ihres Lebens nicht sicher sein: in Kriegsgefangenschaft auf den Rheinwiesen oder im Bleibergwerk in Sibirien, auf dem Brünner Todesmarsch oder im schlesischen Lager Lamsdorf. Für die anderen, die „übrigblieben“ in den kalten, ausgebombten Städten oder in den Flüchtlingsquartieren, hielt das Schicksal für die kommenden Jahre mindestens bittere Not und Hunger parat, denen geschätzte vier Millionen Alte, Schwache und Kinder keinen Widerstand bieten konnten und zugrunde gingen.

Sicher, es gab auch die Befreiten. Die Überlebenden der Konzentrationslager, die politisch Verfolgten, die Kriegsgefangenen. Aber auch sie bedrückte oft das ganz private Ungewisse. Wo sind die Lieben? Wo soll ich hin? Tatsache ist, daß selbst für viele dieser befreiten „Displaced Persons“ der 8. Mai 1945 beileibe nicht das Ende ihrer Odyssee sein sollte.

Gefallene und Kriegsversehrte

Neben der Zahl der westalliierten Gefallenen sind die deutschen militärischen Verluste am genauesten nachgewiesen. Der Historiker Rüdiger Overmans (Militärgeschichtliches Forschungsamt) geht in seiner Untersuchung von etwa 5.316.000 Kriegstoten von Heer, Marine, Luftwaffe, Waffen-SS und Volkssturm aus, wobei insbesondere die 1945 im Endkampf Gefallenen mit etwa 1,2 Millionen die unsicherste Größe sind. Zusätzlich wurden von den insgesamt 18,2 Millionen unter deutschem Befehl kämpfenden Männern knapp zwei Millionen Kriegsversehrte. Allein in der Bundesrepublik lebten 1949 über 1,5 Millionen staatlich anerkannte Kriegsversehrte. Vom Jahrgang 1920 fielen 41 Prozent der Männer, bei den Jahrgängen 1921–1925 jeweils über 30 Prozent.

Bombenkrieg und zivile Opfer

Im Deutschen Reich fielen dem strategischen Luftkrieg der Alliierten insgesamt etwa 600.000 Menschen zum Opfer (Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. IV, 1993). Zivile Verluste im fünfstelligen Bereich gab es in Dresden, Swinemünde, Hamburg, Berlin, Magdeburg, Pforzheim, Darmstadt und Nordhausen. Mehr als 5.000 Bombenopfer beklagten Kassel, Köln, Königsberg, Hannover, Heilbronn, Wuppertal, Frankfurt am Main, München, Wien und Würzburg. Die 50 größten deutschen Städte lagen bis auf wenige Ausnahmen in Schutt und Asche, die meisten Innenstädte waren zu über 80 Prozent zerstört. Allein den Sowjets fielen im Endkampf und danach in Mitteldeutschland und Österreich 400.000 Zivilisten (inklusive „Speziallager“) zum Opfer.

Opfer des Nationalsozialismus

Während der NS-Zeit fielen im Deutschen Reich um die 100.000 Menschen der Euthanasiepolitik zum Opfer. Etwa 300.000 Deutsche (allein 170.000 Juden, aber auch politische Oppositionelle, Kriminelle, Homosexuelle, Zigeuner, „Bibelforscher“ und „Asoziale“) wurden meist in Konzentrationslagern ermordet (Nawratil: Die deutschen Nachkriegsverluste, 2008). Während des Zweiten Weltkriegs wurden vor allem im deutsch besetzten Osteuropa Juden und Zigeuner (etwa 500.000 Opfer; Benz: Der Holocaust, 2008) verfolgt, deportiert und schließlich in Vernichtungslagern (Auschwitz, Majdanek, Sobibor, Treblinka, Chełmno und Belzec) und bei Massenexekutionen ermordet. Der US-Historiker Raoul Hilberg gibt mindestens 5,1 Millionen jüdische Opfer an.

Vertreibung und Gebietsverluste

Nicht nur in den Ostprovinzen des Deutschen Reiches (allein über 116.000 Quadratkilometer in Hinterpommern, Schlesien, Ostpreußen, Ostbrandenburg und Danzig), sondern auch in allen anderen mittelost- und südosteuropäischen Siedlungsräumen waren die Deutschen Opfer der Roten Armee oder der Willkür der Vertreiberstaaten Polen, Tschechoslowakei, Jugoslawien, Ungarn und Rumänien. Insgesamt wurden fast 16 Millionen Deutsche aus ihrer Heimat vertrieben, allein 8 Millionen aus Ostdeutschland und über 3 Millionen aus dem Sudetenland. Bis zu 2,9 Millionen Zivilisten kamen durch sowjetische Kriegsverbrechen und polnische, tschechische oder jugoslawische Übergriffe ums Leben (Statistisches Bundesamt: Die deutschen Vertreibungsverluste, 1958).

Kriegsgefangene und Verschleppte

Obwohl die Haager Landkriegsordnung im Artikel 20 angibt, daß Kriegsgefangene „nach einem Friedensschluß binnen kürzester Frist“ zu entlassen sind“, kehrten von den etwa elf Millionen deutschen Kriegsgefangenen die letzten erst nach zehn Jahren Sklavenarbeit (etwa zwei Milliarden Arbeitstage) in ihre Heimat zurück (Maschke: Die deutschen Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkriegs, 1967). Etwa 1,6 Millionen Kriegsgefangene sind umgekommen, die meisten (1,3 Millionen) in der Sowjetunion), prozentual jedoch in Jugoslawien (geschätzt fast 40 Prozent der 194.000 Kriegsgefangenen). Zudem wurden über 900.000 deutsche Zivilisten (überwiegend in Vertreibungsgebieten) als Zwangsarbeiter verschleppt (Nawratil: Nachkriegsverluste, 2008).

Reparationen und Patentdiebstahl

Im Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 wurde jeder Besatzungsmacht zugestanden, ihre Reparationsansprüche durch Demontagen und Sachlieferungen aus der jeweiligen Besatzungszone zu bedienen. Insbesondere in Mitteldeutschland demontierten die Sowjets fast die Hälfte der industriellen und infrastrukturellen Kapazitäten. In den Westzonen demontierten die Besatzungsmächte insgesamt 682 Werke, was einen Kapazitätsverlust von etwa acht Prozent ausmachte (Treue: Die Demontagepolitik der Westmächte, 1967). Wesentlich bedeutsamer war vor allem für die USA die Beschlagnahme aller deutschen Auslandsvermögen, Devisenbestände und der Raub von Warenzeichen und Patenten, deren Wert heute kaum mehr bezifferbar ist.