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Kurt Schumacher 1946: „Das unsinnige Wort von der Gesamtschuld“
Ein ungebrochener Deutscher
Karlheinz Weißmann

Am 27. Januar 1946 hielt Kurt Schumacher eine Rede vor dem Landesparteitag der Hamburger SPD. Vieles in dem Text war dem Anlaß geschuldet und diente auch der Selbstvergewisserung der gerade wiedererstandenen Sozialdemokratie. Vieles erklärte sich aus den innerparteilichen Kontroversen, vor allem dem Streit zwischen Marxisten und Reformern, und aus den Bemühungen Schumachers, die Übernahmeversuche des Berliner Zentralausschusses der SPD abzuwehren, der nach und nach unter den Einfluß von KPD und sowjetischer Besatzungsmacht geriet.

Vieles an der Sprache und den ideologischen Leitvorstellungen wirkt auf den heutigen Leser irritierend, vom Bekenntnis zur „Internationale“ bis zur Emphase für die Planwirtschaft, vom notwendigen Kampf gegen die „Reaktion“, die Schumacher überall am Werk sah, bis zur Sorge vor dem Aufleben der „Feme“. Das meiste davon ist nur noch von historischem Interesse. Dasselbe gilt aber nicht in bezug auf die grundsätzlichen Feststellungen, die Schumacher ein dreiviertel Jahr nach Kriegsende traf. Der Grund dafür ist seine besondere Perspektive: die eines Deutschen in Deutschland, der wegen seiner Biographie eine Sonderstellung in der „Zusammenbruchsgesellschaft“ (Christoph Kleßmann) einnahm.

Schumacher wurde 1885 im westpreußischen Culm geboren. Er stammte aus einer bürgerlichen Familie, vertrat aber schon als Jugendlicher sozialistische Überzeugungen. Die hinderten ihn nicht, sich unmittelbar nach Beginn des Ersten Weltkriegs freiwillig zu melden. Für ihn ging es wie für viele deutsche Linke nicht nur um einen gerechten Verteidigungs-, sondern auch um einen gegen die Autokratie des Zaren gerichteten Befreiungskampf. In Folge einer schweren Verwundung – sein rechter Arm mußte amputiert werden – schied Schumacher allerdings schon Ende 1914 aus dem Militärdienst und nahm ein Studium der Rechtswissenschaften und der Nationalökonomie auf.

Nach Gründung der Republik zählte er zu den wichtigen Repräsentanten der Kriegsgeneration in der SPD, seit 1930 vertrat er seine Partei im Reichstag. Schumacher gehörte von Anfang an zu den erbitterten Gegnern der Nationalsozialisten und plädierte nach der Machtübernahme Hitlers im Parteivorstand für den Weg in den Untergrund. Seit dem Frühsommer 1933 wurde er steckbrieflich gesucht, kurz darauf festgenommen und in der Folgezeit, von wenigen kurzen Unterbrechungen abgesehen, in Konzentrationslagern festgehalten. Erwähnt sei noch, daß Schumacher jede Zusammenarbeit mit kommunistischen Häftlingen ablehnte, da er der KPD eine entscheidende Mitverantwortung für den Aufstieg Hitlers gab und die fatale Rolle ihrer Anhänger in der Lagerhierarchie der Kapos kannte. Unmittelbar nach Kriegsende, schon vor der Zulassung durch die britische Besatzungsmacht, begann Schumacher von Hannover aus mit der Reorganisation der SPD und übernahm im Herbst 1945 faktisch deren Führung in den Westzonen.

Wenn der biographische Hintergrund Schumachers Einfluß darauf hatte, wie er die deutsche Lage in der erwähnten Rede analysierte, dann aber auf eine kaum erwartbare Weise. Seiner Auffassung nach war diese Lage „schlimmer als nach dem Dreißigjährigen Kriege“, und die „Periode des Stürzens“, so fürchtete er, noch nicht abgeschlossen. Es stünden vielleicht weitere Katastrophen bevor. Die totale militärische Niederlage des Reiches, die Zerstörungen, die Verluste an Menschenleben, Territorium und materiellen Gütern hatten ein unvorstellbares Ausmaß erreicht und die Besetzung einen Grad an Fremdbestimmung zur Folge, der ohne Beispiel in der Geschichte sei.

Das Ziel, „Deutschland am Leben zu erhalten“ und „unserm verirrten Volke treu zu sein“, war für den Patrioten Schumacher selbstverständlich. Bemerkenswert, wenn man bedenkt, wie viele radikale Nationalisten von einst Deutschland verloren gaben.

Angesichts dessen, so Schumacher, stehe man vor einer entscheidenden Frage: „Wollen wir Objekt des Geschehens sein oder wollen wir den Versuch machen, selbständig und gestaltend in die Formung der Gegenwart und Zukunft einzutreten?“ Sich für die zweite Option zu entscheiden, betrachtete er als notwendig, denn nur so sei „Deutschland am Leben zu erhalten“. Dieses Ziel müsse jeder Patriot als unabdingbar betrachten. Eine Auffassung, die zu dem Zeitpunkt alles andere als selbstverständlich war, nicht nur wenn man die kollektive Depression und Mutlosigkeit bedenkt, die sich ausbreitete, sondern auch in Betracht zieht, wie viele radikale Nationalisten von einst – Ernst Niekisch, Ernst Jünger, Gottfried Benn – Deutschland verloren gaben, während Schumacher darauf beharrte, daß es nun darum gehe, „unserm verirrten Volke treu zu sein“. Der „Mißbrauch der nationalen Idee“ in der NS-Zeit besage jedenfalls nichts gegen deren Wert, ganz im Gegenteil.

Schumacher redete damit weder einer Revanche noch einem politischen Maximalismus das Wort. Aber er sah doch sehr deutlich, daß die Unfähigkeit der Besatzungsmächte, eine klare Linie gegenüber dem besiegten Land zu entwickeln, letztlich auf „außenpolitischen Realitäten“ beruhte, dem sich verschärfenden Ost-West-Konflikt einerseits, den Wirkungen von unterschiedlichen Interessen der Amerikaner, Briten, Franzosen und Russen andererseits.

Deshalb dürften sich die Deutschen nicht passiv verhalten, und ihnen sei auch nicht damit gedient, für die eine oder andere Seite zu optieren: „Wir sind gegen jede Politik der Hegemonie und der Vorherrschaft. Wir sind für eine Politik des Ausgleichs und des Gleichgewichts in Europa und in der Welt.“ Es müsse deshalb darum gehen, die eigenen Rechte zur Geltung zu bringen, und es sei an der Sozialdemokratie, diese Aufgabe wahrzunehmen: „Wir sind nicht russisch und nicht englisch und nicht französisch und nicht amerikanisch, wir sind die Vertreter des arbeitenden Volkes in Deutschland und damit die Vertreter der ganzen deutschen Nation.“ Und die habe einen Anspruch darauf, wenn nicht sofort, dann doch in absehbarer Zukunft als „freies und geachtetes gleichberechtigtes deutsches Volk im Rahmen der europäischen Notwendigkeiten“ zu gelten.

Den heutigen Leser wird nicht nur überraschen, daß alle diese Äußerungen zu einem Zeitpunkt fielen, an dem von seiten der Alliierten bestenfalls erste Andeutungen für eine Selbstbestimmung der Deutschen gemacht worden waren und man sie im übrigen wie ein Kolonialvolk behandelte; ihn dürfte vor allem die Forderung nach „Achtung“ und „Gleichberechtigung“ für die Deutschen irritieren. Denn angesichts der etablierten Sicht auf die Niederlage als einen Akt, der kein militärischer und politischer, sondern ein moralischer Vorgang war, bei dem die richtige Seite triumphierte und die falsche niedergeworfen wurde, allein zu dem Zweck, sie als Weltgefahr auszuschließen und ihr den Grad ihrer Verfehlung vor Augen zu führen, erstaunt die Tatsache, daß es für Schumacher zwar auch um „Sühne“ ging, aber nur um eine Sühne, die die Schuldigen zu leisten hätten.

Wer diese Schuldigen waren, erschien ihm ganz genau bestimmbar: die nationalsozialistische Führung samt ihren Helfershelfern. Sie sollten für das zur Verantwortung gezogen werden, was sie getan hatten, und jedenfalls daran gehindert werden, je wieder Einfluß zu gewinnen. Gemeint war damit ausdrücklich nicht die Menge der Parteimitglieder und Mitläufer: „Es wird auch da noch viele tausend geben, die zu retten sind und wertvolle Bestandteile des deutschen Volkskörpers werden.“

Schumacher erkannte bereits, welche fatalen Folgen das Unscharfwerden des Schuldbegriffs haben mußte. An einer entscheidenden Stelle der Rede hieß es: „Und wenn wir heute noch so oft das unsinnige Wort von der Gesamtschuld des deutschen Volkes hören, ein Wort, das wir nicht anerkennen [Lebhafter Beifall], dann mögen seine Verkünder ruhig von einer Schuld sprechen, aber jeweils und in jedem Falle nur von einer Schuld der Kreise, die ihnen persönlich entstammen und die sie repräsentieren, ob das nun ein früherer U-Boot-Kommandant in der Uniform eines geistlichen Herrn ist [Stürmischer Beifall] oder ob es ein kommunistischer Parteisekretär ist. Sie alle mögen von einer Schuld, von ihrer Schuld sprechen, aber nicht versuchen, sich hinter unserem breiten Buckel zu verstecken [Lebhafter Beifall].“

Schumacher erkannte die große Gefahr, daß den Deutschen jedes Selbstbewußtsein abhanden komme, das sie aber dringend brauchten, wenn sie überhaupt bestehen und wieder zu einer verläßlichen Größe der internationalen Politik werden sollten.

Die Anspielung auf den Geistlichen und ehemaligen U-Boot-Kommandanten betraf Martin Niemöller, der sein Prestige als ausgewiesener Gegner Hitlers – er war wie Schumacher lange Zeit in KZ-Haft gewesen – dazu genutzt hatte, um direkt nach dem Ende des NS-Regimes eine Führungsrolle für die Kirchen in Anspruch zu nehmen, auch unter Hinweis auf die Kollektivschuld der Deutschen, deren Abtrag nur mit geistlicher Anleitung möglich sei. Schumacher erkannte hier wie in der Bereitschaft der Kommunisten, sich bedingungslos den sowjetischen Sprachregelungen zu unterwerfen, die große Gefahr, daß den Deutschen jedes Selbstbewußtsein abhanden komme, das sie aber dringend brauchten, wenn sie überhaupt bestehen und wieder zu einer verläßlichen Größe der internationalen Politik werden sollten. Alle Anzeichen deuteten darauf hin, daß sie nicht nur wegen der faktischen Ohnmacht, in der sie sich befanden, sondern auch aufgrund der bereitwilligen Hinnahme aller Vorwürfe, die man gegen sie erhob, „kriecherisch“ wurden.

Dagegen setzte Schumacher auf einen Weg der „selbstbewußten, klaren, natürlichen Anständigkeit und Ehrlichkeit“. Daß der weit und schwer sein werde, war ihm bewußt. In dem Zusammenhang schilderte er auch eine Begegnung mit zwei Vertretern des „Bundes“, einer traditionsreichen Vereinigung jüdischer Sozialisten aus Osteuropa, die ihm ihr Eintreten für die Deutschen schilderten, und Schumacher gab seine Antwort an die beiden Männer mit den Sätzen wieder: „Ihr wart einmal im Ghetto und habt nicht den Mut verloren, jetzt sind wir im Ghetto, aber wir werden den Mut auch nicht verlieren.“

Es ist nicht vorstellbar, daß heute ein verantwortlicher Politiker in der Weise über die Deutschen und ihr Schicksal nach 1945 reden könnte, wie es Schumacher angesichts der Nation tat, die „aus tausend Todeswunden blutend am Boden lag“. Dafür kann man kaum gewachsene Einsicht oder besseres Verständnis der Tatsachen ins Feld führen. Schumacher wußte sehr genau, worum es ging und hatte keine Ursachen, irgendjemand zu schonen oder irgend etwas zu verschleiern. Aber die Nähe zu den Ereignissen schützte ihn vor einer verzerrten Perspektive. Die setzte sich erst durch, als die, die das Kriegsende miterlebt hatten, ihren Einfluß auf die Deutung der Ereignisse verloren oder sich wider besseres Wissen auf die Seite jener stellten, die eine neue Sicht der Dinge etablierten. Deren wichtigste Funktion war: sie selbst zu exkulpieren und dem Rest das Brandmal ewiger Schuld und Unbußfertigkeit aufzudrücken. Mit den Folgen dieses Prozesses werden wir täglich konfrontiert, in Gestalt der immer weiter wachsenden Präsenz der NS-Zeit und ihrer Verbrechen im öffentlichen Bewußtsein, bei konsequenter Weigerung, die historische Dimension des Geschehens einzubeziehen, bei Akzeptanz eines Geschichtsbildes, das volkspädagogisch im schlechtesten denkbaren Sinn ist.

Schumacher hat die Entwicklung aufgrund seines frühen Todes (er starb bereits 1952 an den Folgen der Kriegsverletzung und der in der Haft erlittenen Qualen) nicht mehr verfolgen können. Er ist aber niemals irre geworden an der lange gewonnenen Einsicht in das Wesen der Nation als „Gefühlsgemeinschaft“, die in notwendiger Verbindung mit dem Staat existiert. Der Nationalstaat bedarf wie jeder Staat der „Staatsgesinnung“, mithin der Bereitschaft, sich für den Bestand des eigenen Ganzen einzusetzen, ganz gleich, von welcher Seite das gefährdet ist: etwas, das für Schumacher nicht zu den vorletzten, sondern den „letzten Zielen“ von Politik und mithin zu ihren wichtigsten überhaupt gehörte.

Dr. Karlheinz Weißmann, Jahrgang 1959, ist Gymnasiallehrer, Publizist und Buchautor. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über Identität als „das geheime Etwas“ (JF 13/15).

Foto: SPD-Chef Kurt Schumacher während einer Rede auf dem Römerberg in Frankfurt zwei Jahre nach dem Zusammenbruch: „Wir werden den Mut auch nicht verlieren“ „Die Sozialdemokratie im neuen Deutschland“: Abdruck einer Schumacher-Rede auf dem Landesparteitag der Hamburger SPD 1946 (kl. Bild)