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Am Schlund des Trichters lauschen
Einen Tag und eine Nacht lang haben zum Gedenken an das Kriegsende über 70 Mitwirkende in Berlin aus Walter Kempowskis „Echolot“ vorgelesen
Christian Vollradt

Ich sehe gerade in dieser Minute, wie zwei Hitler-Offiziere mit ihrem gesenkten Banner und ohne Waffen vom Tiergarten-Park Richtung Brandenburger Tor gehen, in dessen Nähe ein Haufen deutscher Waffen liegt und sich deutsche Soldaten und Offiziere drängen.“

Den Satz, den der Rotarmist Pjotr Sebeljow am Montag, den 30. April 1945 an seine Eltern schrieb, liest ein junger Mann vor. Durch die Glasfront hinter ihm erkennt man den Tiergarten und das Brandenburger Tor, wo an diesem Donnerstag, dem 30. April 2015 morgens um 7 Uhr, gerade der Berufsverkehr begonnen hat. Der Ort der Lesung und der Ort der Handlung sind identisch; 70 Jahre liegen dazwischen. Und Welten.

Momente wie dieser machten die 24stündige Nonstop-Lesung von „Abgesang ’45“, des vierten und letzten Teils von Walter Kempowskis Monumentalwerk „Echolot“, so besonders eindrucksvoll, die vergangene Woche in der niedersächsischen Landesvertretung stattfand. Gut 450 Seiten umfaßt dieser Abschnitt des kollektiven Tagebuchs, das der 2007 verstorbene Schriftsteller zwischen 1999 und 2005 herausgegeben, an dem er aber seit den frühen achtziger Jahren gearbeitet hat. Wobei das Jahr 1945 eben das Zentrum des „Echolots“ bildet; es ist – so äußerte Kempowski einmal – der „Schlund des Trichters, auf den alles zudrängt“.

Über 70 Personen – unbekannte wie prominente – hatten sich auf die Anregung der Kempowski-Stiftung sowie des Kempowski-Archivs hin gemeldet, um jeweils etwa eine Viertelstunde lang die Schilderungen der Zeitzeugen vorzulesen.

Den Reigen eröffnete die niedersächsische Wissenschaftsministerin Gabriele Heinen-Kljajic (Grüne), die – in lobenswerter Abweichung von üblichen Politikergepflogenheiten – „aus Respekt vor dem berühmtesten zeitgenössischen Schriftsteller Niedersachsens“ auf ein eigenes Grußwort verzichtete. Ihr folgte als prominente Vorleserin Kempowskis Ehefrau Hildegard. Sie verbrachte tatsächlich auch die gesamte Nacht im Veranstaltungsraum, in dem zeitweilig nur noch ein halbes Dutzend Zuhörer lauschten.

Daß Walter Kempowski sein „Echolot“ vorgelesen wissen wollte, betonte sein Biograph Dirk Hempel in einem kurzen Einführungsvortrag. Man dürfe „den Alten nicht den Mund zuhalten, wenn sie uns etwas erzählen wollen“, schließlich sei es ja unsere Geschichte, die da behandelt werde, lautete das Credo des Schriftstellers. Der hat in diesem Werk keine Zeile selbst geschrieben, sondern die Erlebnisberichte von etwa 2.500 Zeitzeugen collagiert.

Frappierend an dieser Komposition wirkt dabei die Gleichzeitigkeit : Hitler, der kurz vor seinem Selbstmord im politischen Testament über den Ehrbegriff des deutschen Offiziers („daß die Übergabe einer Landschaft oder einer Stadt unmöglich ist ...“) schwadroniert, ein russischer General der Wlassow-Armee, der auf die Amerikaner hofft (die ihn später an die Sowjetunion ausliefern, wo er dann erhängt wird), KZ-Gefangene in der Hoffnung auf Befreiung, deutsche Zivilisten in der Furcht vor Plünderungen und Vergewaltigung. Beim Zuhören kommt das Ergebnis dieser Verdichtung noch stärker zur Geltung als beim Lesen.

Bedarf es eines Schlückchens Wasser in den Wein? Vielleicht, daß zur Eröffnung die „Bolschewistische Kurkapelle Schwarz-Rot“ aufspielte; mit einem Roma-Lied auf den Schutzheiligen gegen Geschlechtskrankheiten. „Was das nun wieder soll?!“ hätte da wohl der Meister aus Nartum gegrantelt.