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Moskau setzt auf Angriff
Kampf um die Arktis und ihre Ressourcen: Mit seinem Anspruch auf das gesamte Nordpolargebiet verprellt Rußland die Anrainer
Marc Zoellner

Børge Brende wirkte nicht nur wütend, sondern auch bis ins Mark erschüttert, als er am Abend des 19. April vor die Kamera trat. Eingeladen vom „Dagsrevyen“, dem täglichen Nachrichtenprogramm des norwegischen Staatsrundfunks, sollte sich der Außenminister des skandinavischen Landes zum Verhältnis seiner Regierung zum angrenzenden Nachbarn Rußland äußern.

Doch dem als charismatisch und redegewandt geltenden Konservativen fielen zu dieser Stunde die Worte schwer. Rußland behauptet, es sei als unser Nachbar auf eine gute Beziehung mit uns aus, erklärte der 49jährige geschockt. „Warum aber tun sie dann sowas?“ Brende und die Norweger sind sich sicher: Der Kreml versucht sich an einer bewußten Antastung der territorialen Souveränität und Integrität ihrer Republik.

Was eigentlich passierte, ist rasch erklärt. Im Zuge der Einweihung der neuen, auf dem arktischen Eismassiv errichteten russischen Forschungsstation „Nordpol 2015“ war auch Rußlands Vizepremier Dmitri Rogosin in die Arktis eingeladen, um zusammen mit Vertretern der russisch-orthodoxen Kirche den zeremoniellen Feierlichkeiten beizuwohnen. Unangekündigt setzte sein Flugzeug jedoch plötzlich zur Zwischenlandung in Longyearbyen an, der Verwaltungshauptstadt Spitzbergens, Norwegens nördlichstem Besitz im Nordpolarmeer.

US-Amerikaner suchen den Schulterschluß mit Moskau

Daß Rogosin sich an Bord befand, verschwiegen die Piloten den Behörden. „Zu spät“ sei es nun für die norwegische Regierung, etwas gegen seine Anwesenheit auf dem Eiland zu unternehmen, twitterte der Vize kurz nach seiner Ankunft auf Spitzbergen. An die norwegische Regierung gewandt: „Es bringt nichts, die Fäuste noch nach dem Kampf zu schütteln.“

Selbst für moderne russische Verhältnisse gilt Dmitri Rogosin als nationalistischer Hitzkopf. Bis 2006 leitete er die kremlnahe Rodina-Partei, ein Querfrontbündnis rechts- sowie links-populistischer Abgeordneter, welches bei den Parlamentswahlen von 2003 rußlandweit über neun Prozent der Stimmen für sich beanspruchen konnte. Zwei Jahre darauf beförderte Wladimir Putin Rogosin zum Kreml-Vertreter bei der Nato, 2011 ernannte er ihn schließlich zum Vizepremier.

Als einer der bekanntesten Vertreter der großrussischen Bewegung wurde Rogosin im Sommer 2014 damit beauftragt, das Vorwort zu einem Buch des Irredentisten Ivan Mironov zu verfassen, welches später unter dem Titel „Alaska verraten und verkauft: Die Geschichte einer Palastverschwörung” erscheinen sollte. „Rußland besitzt ein geschichtliches und juristisches Recht“, beschloß Rogosin seine Ausführung, „seine Kolonien auf Alaska und den Aleuten wiederzubekommen, über welchen vor 150 Jahren bereits die russische Flagge wehte.“

„Wir sind nun für immer in die Arktis gekommen und werden sie unser Eigen machen“, verkündete Rogosin nach seiner Ankunft in Longyearbyen. „Die Arktis ist Rußlands Mekka.“

Der Zeitpunkt der russischen Aktion im hohen Norden Europas hätte dabei nicht treffender gewählt werden können. Nur wenige Tage später sollte sich der Arktische Rat zu seinem alle zwei Jahre stattfindenden Treffen konstituieren. Die acht Anrainerstaaten der Polarregion hatten sich 1996 in Ottawa zu diesem vereinigt, um künftig gemeinsam Fragen zur Ökologie und zur Seenotrettung, aber auch zur wirtschaftlichen Ausbeutung des Nordpols zu beantworten. Neben Rußland waren auch die Außenminister Kanadas, der USA, Dänemarks, Norwegens, Islands, Finnlands und Schwedens zur Konferenz in Iqaluit, der Hauptstadt der kanadischen Inuitprovinz Nunavut eingeladen; ebenso wie sechs Vertreter der indigenen Völker der Arktis.

Turnusgemäß wurde auf diesem Treffen der Vorsitz des Rats von der kanadischen Umweltministerin Leona Aglukkaq an US-Außenminister John Kerry übergeben. Neben der Verbesserung der Lebensumstände der im internationalen Vergleich bettelarmen Siedlungen des Polarkreises drängen diesen in seiner künftigen Amtszeit vor allem wirtschaftliche Prioritäten: Denn die Schmelze der Eiskappen bringt nicht nur verschlechterte Umweltbedingungen mit sich.

Sie bietet den angrenzenden Nationen auch erleichterte Möglichkeiten zur Ausbeutung der unter dem Meer ruhenden gewaltigen Bodenschätze wie Erdöl und Erdgas. Republikanische Senatoren wie Lisa Murkowski, die seit 2002 den abgelegenen US-Bundesstaat Alaska im Senat vertritt und gleichzeitig auch den Vorsitz über dessen „Komitee für Energie und natürliche Ressourcen“ innehat, drängen seit längerem im Namen von Mineralölkonzernen wie Shell, deren Exploitationsversuche am Nordpol nicht länger durch tiefgreifende Umweltschutzgesetze rigoros einzuschränken, sondern die Arktis auch diesen Marktgiganten zu öffnen. Eine enge Zusammenarbeit mit Rußland ist für Murkowski dabei essentiell.

„Ich glaube, daß Rußland unser Partner sein kann und sein sollte. Es gibt mehr Möglichkeiten in der Arktis als irgendwo sonst, um eine Beziehung zwischen uns beiden aufzubauen“, erklärte Murkowski kürzlich dem staatlichen russischen Nachrichtenportal Sputnik.

Doch Rußlands Außenminister erteilte der Arktis-Konferenz eine Absage. Man sehe keine Notwendigkeit mehr zur Zusammenarbeit, ließ das Ministerium die russische Botschaft in Ottawa erklären. Stattdessen entsandte Moskau Sergei Donskoi, den russischen Minister für Umwelt und natürliche Ressourcen, nach Nunavut. Die Botschaft des Kremls an seine Nachbarn ist dabei deutlich: Die Arktis gehört zu Rußland; sämtliche anderen Anrainer werden zu Zuschauern degradiert.

Doch so neu sind Moskaus Ansprüche auf den Nordpol nicht. Schon in den 1920ern vermerkten die Atlanten der damaligen Sowjetunion die komplette Arktis als russisches Hoheitsgebiet. Erst 1997 unterzeichnete Rußland schließlich das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen, welches die territorialen Besitzverhältnisse der Vertragsstaaten auf 200 Meilen vor der jeweils eigenen Küste beschränkt. Mit der „Arktika 2007“-Expedition initiierte der Kreml jedoch bereits zehn Jahre später eine Umkehr seiner polaren Programmatik. Zwei Unterseeboote der Mir-Klasse wurden damals vom Forschungsschiff „Akademik Fyodorov“ am Nordpol abgesetzt, um auf dessen Meeresgrund in rund 4.300 Metern Tiefe zwei Flaggen zu hissen: einmal jene der Russischen Föderation sowie anschließend das Emblem des „Einigen Rußland“, der Partei Wladimir Putins.

„Wir müssen beweisen, daß der Nordpol eine Erweiterung der russischen Landmasse ist”, berichtete der Polarforscher Artur Chilingarov nach dem Erfolg seiner Expedition auf einer Pressekonferenz. „Und das haben wir: Die Arktis ist russisch.“

Über eine Million Quadratkilometer, rund zweieinhalb mal die Fläche Deutschlands, beansprucht Rußland seitdem unter dem Packeis des hohen Nordens. Die Gründe sind besonders wirtschaftlicher Natur: Unter der Arktis werden immense Bodenschätze vermutet. Beinahe ein Viertel der weltweiten Erdöl- und Erdgasvorkommen vermutet die US-Geologiebehörde USGS im Nordpolarmeer. Von russischen Experten wird der Gesamtwert dieser fossilen Ressourcen mit umgerechnet rund 25 Billionen Euro benannt. „Wir sind davon überzeugt“, bestätigte auch Wagit Alekperow, der Vorsitzende des russischen Ölriesen Lukoil, kürzlich am Rande einer Konferenz in Houston dem Nachrichtenportal Sputnik, „daß Rußland bei der Erschließung seiner großen Vorräte in der Arktis wieder zu einem Spitzenreiter in Sachen Ölproduktion aufsteigen wird.“

Um eine rasche Ausbeutung dieser Mengen zu ermöglichen, kündigte Rogosin einen erweiterten Etat von umgerechnet rund vier Milliarden Euro an. Die Gelder sollen mehrheitlich der neu gegründeten staatlichen Arktis-Kommission zugute kommen. Doch auch die militärischen Einrichtungen Moskaus am Polarkreis genießen seit diesem Jahr besondere Förderung.

„In der Arktis entsteht ein breites Spektrum an potentiellen Herausforderungen und Gefahren für die Sicherheit unseres Landes“, ließ Rußlands Verteidigungsminister Sergej Schoigu bereits Ende Februar auf einer Sitzung des Kreml verlauten. Deshalb sei der „Ausbau der militärischen Infrastruktur in dieser Region eines der Hauptanliegen des Verteidigungsministeriums.“

Seit Frühlingsbeginn herrscht nun Hochkonjunktur auf den russischen Nordpolarmeerinseln. Von Neusibirien bis zum Franz-Josef-Land sprießen Militärflughäfen wie Pilze aus dem Boden. Offiziell besitzt Moskau bereits elf an der Zahl. Anfang April erklärte Kirill Makarow, stellvertretender Befehlshaber der russischen Luftverteidigung, lediglich, im Gebiet der Arktis bereits Flugabwehrsysteme vom Typ „Panzyr“ stationiert zu haben. Automatisierte Radarsysteme, die ohne Besatzung auskämen, sollten diesen in Kürze folgen.

Aus Furcht vor einer Eskalation des Konflikts um den Polarkreis verkündeten die skandinavischen Staaten Mitte April eine Verstärkung ihrer Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich. „Das russische Militär fordert uns an unseren Grenzen heraus“, proklamierten die Verteidigungsminister in einer gemeinsamen Presseerklärung. Moskau habe „bewiesen, daß es bereitwillig auf militärische Mittel setzt, um seine politischen Ziele zu erreichen, selbst wenn internationales Recht damit verletzt wird“.

Foto: Umweltminister Sergei Donskoi, Vize-Ministerpräsident Dmitri Rogosin, Polarforscher Artur Chilingarov, Wirtschaftsminister Alexei Ulyukayew am Nordpol (19. April 2015): Posieren mit einer Replik der sowjetischen Siegesflagge, die am 30. April 1945 am Reichstag gehißt wurde