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Auch Einwanderer können Deutschland nicht mehr retten
Demographie: Trotz Zuwanderung wird die Bevölkerung schrumpfen. Die Rentenpolitik der Koalition droht Schieflage der Gesellschaft noch zu verschärfen
Felix Lehmann

Eine Reise durch Deutschland im Jahr 2060. Hamburg. Die Stadt platzt aus allen Nähten. Auf den Straßen staut sich der Verkehr. Die öffentlichen Verkehrsmittel sind überfüllt. Wohnraum ist schon seit Jahren für viele Bürger kaum noch zu bezahlen. Szenenwechsel: Aus der Stadt heraus Richtung Norden. Ein verlassenes Dorf nach dem andern taucht vor uns auf. Vernagelte Gebäude, verlassene Kitas. Der letzte Arzt ist schon vor Jahren in die Stadt gezogen, weil die meisten seiner Patienten längst das zeitliche gesegnet haben.

So oder so ähnlich könnte es in einigen Jahrzehnten in Deutschland aussehen. Denn die deutsche Bevölkerung wird in den kommenden Jahrzehnten immer schneller schrumpfen, dennoch werden die Einwohnerzahlen in den Ballungsgebieten nach oben schnellen. Zu diesem Ergebnis kommt das Statistische Bundesamt in seiner neuesten Bevölkerungsvorausberechnung, die in der vergangenen Woche vorgestellt wurde. Das Ergebnis: Schon heute kann die Zahl der Todesfälle nicht nicht mehr durch die Geburtenzahlen kompensiert werden. 2013 standen den 682.000 Geburten 893.000 Todesfälle gegenüber.

Bevölkerung schrumpft trotz Zuwanderung

Je nachdem, welche Zuwanderungszahlen für die nähere Zukunft zugrunde gelegt werden, wird die Bevölkerung zwar noch weitere fünf bis sieben Jahre wachsen. Spätestens dann werde sich der Trend umkehren, beschrieb der Präsident des Statistischen Bundesamtes, Roderich Egeler, die Situation. 2060 könnte die Bevölkerung der Bundesrepublik nur noch 73,1 Millionen betragen – jedoch nur dann, wenn starke Zuwanderungsströme zu verzeichnen seien. Ohne Zuwanderung könnte Deutschlands Bevölkerung gar um 24 Millionen Menschen schrumpfen. Der Sachverständigenrat der Deutschen Wirtschaft geht davon aus, daß jährlich bis zu 350.000 Menschen einwandern müßten, um die Zahl der Einwohner konstant zu halten.

Besonders die Menschen im erwerbsfähigen Alter werden der Modellrechnung zufolge stark vom demographischen Wandel betroffen sein. Bis 2060 könnte die Zahl der Erwerbstätigen um bis zu 30 Prozent sinken, da immer mehr Menschen das Renteneintrittsalter erreichen werden. Dann werden dann knapp 23 Millionen Menschen die Altersgrenze von 65 Jahren erreicht haben. Diese Zahlen sind noch recht optimistisch, legen sie doch die jüngst von der Großen Koalition beschlossene Rentenreform noch nicht zugrunde.

Das System der öffentlichen Daseinsvorsorge steht in Folge dieser Entwicklung vor immensen Herausforderungen. Denn ein Anstieg der Lebenserwartung hat nicht nur eine längere Rentenbezugsdauer zur Folge, auch die Finanzierung der Gesundheitsversorgung und Pflege ist mehr als ungewiß. Gab es 1999 noch rund zwei Millionen Pflegebedürftige, so rechnet das Statistische Bundesamt vor, daß es bis zum Jahr 2050 rund 4,6 Millionen Pflegebedürftige sein werden. Vor allem die Zahl der über 80jährigen werde deutlich steigen.

Doch auch der Arbeitsmarkt steht durch die demographische Entwicklung vor großen Umbrüchen. Mit dem Ausscheiden der Babyboomer-Generation aus dem Arbeitsmarkt wird die Zahl der arbeitenden Menschen auf etwa 30 Millionen sinken. Da sich durch den stetigen technischen Wandel abzeichnet, daß die fachlichen Anforderungen an Arbeitsplätze zunehmen werden, drohen vor allem Geringqualifizierte die Verlierer dieser Entwicklung zu sein.

Auf die Finanzierung der Sozialsysteme sowie der Staatseinnahmen hat dies erhebliche Auswirkungen. Immerhin: Arbeitslosigkeit wird aufgrund der schwindenden Zahl der Erwerbstätigen eines der geringeren Probleme sein.

Regierung verweigert

Weichenstellungen

2007 beschloß die Große Koalition unter Kanzlerin Angela Merkel gegen heftigen Protest der Gewerkschaften, Linken und Teilen der SPD, die Regelaltersgrenzen der gesetzlichen Rentenversicherung schrittweise anzuheben. Die nach 1963 geborenen Jahrgänge sollten erst mit dem 67. Lebensjahr volle Rentenbezüge erhalten. Aus Sicht des damaligen Sozialministers Franz Müntefering ein unabdingbarer Schritt. „Wir haben die Verantwortung für morgen und für kommende Generationen, wir müssen handeln“, sagte der damalige SPD-Politiker im Bundestag. Als einen„Schritt in die richtige Richtung“ kommentierte damals das Institut für Deutsche Wirtschaft den Beschluß der Koalition. Doch gingen die Maßnahmen nicht weit genug. Die Alterung der Gesellschaft und der damit verbundene Anstieg der Lebenserwartung vollzögen sich viel zu schnell, als es durch die Rentenreform kompensiert werden könne, hieß es aus dem Institut.

Doch mit den Rentenbeschlüssen der Großen Koalition, die am 1. Juli 2014 in Kraft getreten sind, wurde eine rentenpolitische Kehrtwende vollzogen. Das Recht auf abschlagsfreie Rente nach 45 Beitragsjahren läßt die Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre faktisch ins Leere laufen. Selbst die Bundesregierung beziffert die zusätzlichen langfristigen Kosten mit drei Milliarden Euro pro Jahr. Angesichts der immer weiter sinkenden Zahl der Beitragszahler stellt sich die Frage nach der Finanzierbarkeit des Rentensystems um so dringender.