© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/15 / 01. Mai 2015

Heilung der Natur für unsere Seele
Renaturierung: In Deutschland soll sich bis 2040 die Wildnis ausdehnen
Dieter Menke

Renaturierung, so orientiert der Fremdwörter-Duden, ist „die Zurückführung in einen naturnäheren Zustand“. Was aber versteht man unter „naturnah“? Bei den Verfechtern der Wiederherstellung natürlicher Lebensräume gehen die Meinungen über die Definition dessen, was Naturnähe sein soll und damit über die Zielbestimmung ihrer Arbeit nicht selten weit auseinander. Die radikalste Position beziehen jene, die für „absoluten Nutzungsverzicht“ eintreten, um Kulturlandschaften in „Wildnis“, also dem Menschen entzogene Natur zu verwandeln.

In der Debatte um Renaturierung sind diese Anhänger der „Wildnis“-Fraktion seit geraumer Zeit in der absoluten Mehrheit, wie auch die drei Dutzend Aufsätze im aktuellen Jahrbuch Ökologie 2015 bestätigen, die das Thema in seiner ganzen Komplexität aufzubereiten versuchen. Wobei verblüfft, daß nur wenige Beiträger in den unter Umweltschützern üblichen Weltuntergangston verfallen. Dazu haben die „Renaturierer“ auch wenig Anlaß. Denn einerseits schreitet die Professionalisierung der Renaturierungsökologie mit Siebenmeilenstiefeln voran, andererseits öffnen sich ihr politisch alle Türen.

Die Urnatur erinnert

uns an das Paradies

Ausgehend von den USA, wo 1988 die Society for Ecological Restoration gegründet wurde, fand das ganzheitliche Konzept der Wiedergutmachung an der Natur unter der Parole „Mehr Wildnis wagen“ rasch Zuspruch in Europa, und hier vor allem bei deutschen Umweltverbänden sowie an vielen Universitäten und Fachhochschulen, wo Renaturierungsökologie inzwischen zum festen Bestandteil von Forschung und Lehre zählt. Demnächst dürfte für die Disziplin, deren theoretisches Fundament eine stattliche Reihe von Lehrbüchern bereits gelegt hat, auch ein eigener Studiengang eingerichtet werden.

Was die Attraktivität des Faches für Studenten ausmacht, ist seine Brückenfunktion zwischen ökologischer Wissenschaft und praktischem Naturschutz. Hier, so schwärmt das Autorenteam um Reinhard Piechocki­ (Internationale Naturschutzakademie Insel Vilm), sei die Trennung von grundlagenorientierter und angewandter Naturwissenschaft durchbrochen, da das theoretische Wissen direkt für die Wiederherstellung „gewünschter Ökosysteme“ verwertet werde.

Man überschreite sogar den Rahmen der rein naturwissenschaftlich basierten „angewandten Ökologie“, da der transdisziplinär zu schulende Forschernachwuchs auf praktischer Ebene lerne, planerische, rechtliche und sozioökonomische Aspekte der Renaturierung sowie ihre ethischen und ästhetischen Dimensionen zu berücksichtigen.

Um die rosigen Zukunftsaussichten des Faches zu illustrieren, verweist Pie­chocki auf den in nur einem Jahrzehnt vollzogenen Bedeutungswandel des Begriffes Wildnis, der nicht länger negativ im Sinne von bedrohlicher Natur, sondern mittlerweile ausschließlich positiv besetzt sei, da „Urnatur“ für, wie es der Greifswalder Botaniker Michael Succow poetisch formuliert, „Seelenschutzräume“ und „Erinnerungen an das Paradies“ stehe. Nicht mehr die Wildnis werde heute als Bedrohung empfunden, sondern ihre Gegenwelt, die technisch hochorganisierte Zivilisation.

Diesem „neuen Denken“ trug die Bundesregierung erstmals 2007 mit ihrer „Biodiversitätsstrategie“ Rechnung. Sie sieht vor, bis 2020 fünf Prozent der Wälder insgesamt, zehn Prozent der Wälder in öffentlicher Hand, aus forstlicher Nutzung zu entlassen. Zudem sollen zwei Prozent der Landesfläche, 710.000 Hektar (ha), bis 2040 als Wildnis geschützt sein. Bisher gelten 390.000 ha als „werdende Wildnis“. Dazu gehören 100.000 ha der Kernzonen in den Nationalparks, 40.000 ha in Biosphärenreservaten, 50.000 ha Wildnisentwicklungsflächen im Nationalen Naturerbe, 100.000 ha aus der Nutzung genommene naturnahe Moorlandschaften sowie 100.000 ha von Naturschutzgroßprojekten, Naturwaldzellen und Stiftungen.

Sagenhafte Renaissance

des Wanderfalken

Eine große Landreserve, um bis 2040 zwei Prozent des verbliebenen Deutschland zu renaturieren, stünde mit den 970.000 Hektar der Truppenübungsplätze zur Verfügung, von denen sich 2014 schon 13 Prozent in der Obhut von Naturschutzorganisationen befand, das Gros davon Militärgelände der Ex-DDR. Hinzu kämen Bergbau­folgelandschaften im einstigen Lausitzer Braunkohlerevier. Als Paradebeispiel dafür, wie „freie Naturentwicklung“ sich vollziehe, nennt Piechocki die 2.000 Hektar große Goitzsche-Wildnis bei Bitterfeld.

Weiteres Potential böten Moore, Auen und ausgewählte Seen. In den fast vollständig land- oder forstwirtschaftlich genutzten Mooren, mit 14.200 Quadratkilometern oder vier Prozent des Bundesgebietes immer noch erstaunlich umfangreich, werden jedoch jährlich zehn Millionen Kubikmeter Torf abgebaut. Das führt zu Moorentwässerung, Torfschwund, Bodensackung und schließlich zur Freisetzung von Treibhausgasen. Revitalisierte Moore könnten hingegen als Kohlenstoffspeicher dienen. Durch Wiedervernässung sei eine jährliche Reduzierung von bis 15 Tonnen CO2-Äquivalenten pro Hektar zu erreichen.

Ähnlich ökonomisch wie ökologisch bezahlt mache sich die Wiederherstellung naturnaher Flußlandschaften. Zwei Drittel davon hat das heutige Bundesgebiet seit 1949 verloren. Entschlösse man sich hier zur Kehrtwende, dürften großflächige Auen­renaturierungen eine Wiederholung der milliardenteuren Hochwasser-Kalamitäten, die die Anwohner von Rhein, Oder, Elbe und Donau zwischen 1993 und 2013 heimsuchten, mittelfristig verhindern.

Das sichtbarste Signal der anbrechenden Wildnis-Ära ging 2000 vom ersten Wolfsrudel aus, das sich in der Muskauer Heide etablierte. Im Januar 2014, so der darauf sichtlich stolze Nabu-Präsident Olaf Tschimpke, streiften dann 26 Rudel durch die Territorien von sechs Bundesländern. Eine Erfolgsbilanz vergleichbar denen anderer „Symbolarten“ der „Urwildnis“: Biber, Luchs, Fischotter, Seeadler, Kranich, Weißstorch, Uhu und, unübertroffen, der Wanderfalke, der 1970 mit 50 Brutpaaren vor dem Aussterben stand und dessen Brutbestand gegenwärtig geschätzte 1.200 Paare umfaßt.

www.jahrbuch-oekologie.de