© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/15 / 01. Mai 2015

Kulturmarxismus
Die Zersetzung des Westens
Thomas Kuzias

Sie betrifft uns alle, sie fällt fast jedem auf, sie geht immer mehr Leuten auf die Nerven; und dennoch wirkt und funktioniert sie mit fast unheimlicher Zuverlässigkeit. Die Sache hat längst ihren festen Namen, ja es gibt sogar schon Witze über sie. Die Rede ist von der sogenannten „Political Correctness“ (Politische Korrektheit). Gemeint sind damit die Sprech- und Denkvorschriften, die restriktiv regeln, wie wir uns vorzugsweise öffentlich über politische, historische und selbst private Dinge angemessen äußern dürfen. Manch einer spricht gar von Denkverboten oder modernen Tabus, die mit Hilfe eines unsichtbaren Mechanismus errichtet werden: tagtäglich in den Parlamenten, den Medien, unseren Schulen und Universitäten, sogar selbst im Kopf des einfachen Mannes auf der Straße.

Diese lästige Angelegenheit ist nun aber keine bloß deutsche, sondern sie wirkt länderübergreifend, betrifft ganz Europa, den sogenannten freien Westen insgesamt. In den Vereinigten Staaten als dem traditionellen Hort der Redefreiheit scheint die Politische Korrektheit jedoch am heftigsten zu walten. Demzufolge ist für das allgegenwärtige Phänomen in den USA auch zuerst eine Erklärung in Umlauf gebracht worden, die zugleich den Anspruch erhebt, der Politischen Korrektheit zu widersprechen. „Entzauberung durch Erklärung“ lautet die Strategie amerikanischer Konservativer wie Patrick J. Buchanan, Paul M. Weyrich oder William S. Lind, die sich dem politisch-korrekten Zeitgeist kämpferisch entgegenstellen.

Politische Korrektheit, heißt es dort, ist nichts anderes als „Cultural Marxism“ (Kulturmarxismus), womit eine neue Ideologie des liberalen, linken Establishments der USA gemeint ist. Deren Ausbreitung in Form eines gefälligen Zeitgeistes sorgt dafür, daß den Normen und Ansichten ebendieser Ideologie ein hegemonialer Status zu eigen ist. Während in den USA unter Konservativen aller Couleur das Erklärungsmuster Kulturmarxismus weit verbreitet ist, steckt man in Deutschland in dieser Hinsicht noch in den Kinderschuhen. Das ist durchaus verständlich, denn die mit dieser Einsicht in sehr abstrakte Zusammenhänge unserer Gegenwartskultur verbundenen Tücken sind beachtlich.

Wer sich das unbekannte Wort „Kulturmarxismus“, wie es heutzutage üblich ist, „ergoogeln“ will, stößt zum Beispiel schnell auf den Umstand, daß der Rechtsterrorist Anders Breivik es in seinem über tausend Seiten starken Pamphlet „2083“ häufig verwendete. Mit diesem Kompendium, das aus zusammenkopierten Textfragmenten aus dem Internet bestand, rechtfertigte Breivik seine blutige Tat (77 Menschen fanden am 22. Juli 2011 durch ihn den Tod) als Widerstandsaktion gegen die von der norwegischen Arbeiterpartei betriebene Masseneinwanderung von kulturfremden Asylanten in sein Heimatland. Erst in seiner Verteidigungsrede vor Gericht erklärte er das Wort genauer: Die norwegischen Sozialdemokraten befürworteten „eine kommunistische kulturelle Politik. Daher der Ausdruck ‘Kulturmarxisten’ oder ‘Halbkommunisten’.“

Dieser Befund ist nun doch erschreckend mager und korrespondiert mit der Wahl verbrecherischer Mittel, die die Motivlage des Attentäters vollständig diskreditieren. Wer also mit dem Hinweis auf Breiviks terroristisches Handeln eine klärenswerte und, wie noch deutlich werden wird, durchaus bedenkenswerte Überzeugung amerikanischer Konservativer aushebeln will, begibt sich auf ein Niveau, welches sich gegen ihn selbst wendet. Letztlich erweist er sich als Gralshüter der Politischen Korrektheit, indem er einen erpresserischen Mechanismus in Anschlag bringt, der das freie Denken reglementieren will. Doch ebenso funktioniert die Politische Korrektheit.

Während sich die Amerikaner weltweit mit dem Kommunismus herumschlugen, etablierte sich zu Hause eine neuartige Ideologie und errang peu à peu die Deutungshoheit über den vormals exklusiv christlich-konservativ-patriotischen Wertekanon.

Schon Goethe aber verstand unter Zeitgeist „der Herren eigner Geist“ und bewies damit ideologiekritischen Scharfblick, von dem sich mancher vor den „Herren“ unserer Zeit auf dem Bauch liegender Zeitgenosse eine Scheibe abschneiden sollte. Wer aber sind heute diese „Herren“, also die Leute, deren Definitionsmacht unsere Geschicke in einem geistig-intellektuellen Sinne beeinflussen, lenken und regeln? Wem sollte heutzutage, wo doch jeder sagt und glaubt, was er will, in dieser Hinsicht noch irgendeine restriktive Macht zukommen? Damit sind wir wieder bei der interessierenden Frage und der Antwort auf sie durch engagierte Konservative jenseits des Atlantiks angelangt.

Nachdem Amerika aus dem Kalten Krieg als Sieger hervorgegangen und die Freude über diesen Sieg verrauscht war, wurde dort manchem schmerzhaft bewußt, daß der grandiose Sieg auch seine dunkle Seite hatte. Während sich die stets äußerst selbstbewußten Amerikaner weltweit mit dem Kommunismus herumschlugen, hatte zu Hause eine neuartige Ideologie Fuß gefaßt, sich etabliert und peu à peu die Deutungshoheit über den vormals exklusiv christlich-konservativ-patriotischen Wertekanon errungen.

Diese geistige Strömung und ihr überwältigender Erfolg jenseits des Atlantiks verlangten nach einer schlüssigen Erklärung. Denn allzu offensichtlich hatte die wilde Studenten- und Jugendbewegung der sechziger und siebziger Jahre, die nur teilweise eine Anti-Kriegsbewegung gewesen war, nicht nur das Lebensgefühl einer ganzen Generation verändert, sondern eine Tiefentransformation der amerikanischen Kultur bewirkt. Die etablierten Selbstbeschreibungen der amerikanischen Linken wie „New Left“ oder „Westlicher Marxismus“ kamen jedoch nicht als Erklärung in Frage. Denn dies bedeutete Folge und Ursache zu verwechseln. Die gesuchte Antwort mußte weiter ausholen, um plausibel zu sein.

Die dem christlichen Milieu entstammenden Konservativen setzten sich aus einer ganzen Reihe von Tatsachen ein Bild zusammen und fanden die ihnen einleuchtende Erklärung für die allenthalben zu beobachtenden negativen Veränderungen ihres Landes. Als im Jahre 1933 – so hebt die konservative Sicht auf die Dinge an – in Deutschland die Nationalsozialisten an die Macht kamen, emigrierte eine kleine Gruppe marxistischer Intellektueller, die den Verlautbarungen des unter sowjetischer Führung stehenden Weltkommunismus schon seit geraumer Zeit mißtrauten. Hierbei handelt es sich um die sogenannte „Frankfurter Schule“, einen links-humanistischen „think tank“ zur Modernisierung des marxistischen Denkens.

Innerhalb dieses Zirkels von Intellektuellen hatten sich massive Zweifel hinsichtlich der Zeitgemäßheit ihrer ideologischen Glaubensgrundsätze breitgemacht. Die durch ökonomische Krisen auszulösende Revolution zur Überwindung des Kapitalismus war ausgeblieben. Schon 1914 hatte das Proletariat als revolutionäres Subjekt versagt, da die Arbeiter sich lieber auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges die Köpfe einschlugen, als den von Karl Marx vorausgesagten Kommunismus zu verwirklichen. Die Sowjetunion indes blieb ein fragwürdiger Einzelfall, zumal sie eher als Experimentierfeld neuartiger Massenrepressionen denn als Gesellschaft freier und emanzipierter Menschen in Erscheinung trat. Statt dessen waren in ganz Europa faschistische Bewegungen siegreich auf dem Vormarsch, die in der Arbeiterschaft erstaunlichen Rückhalt gewannen.

Die nonkonformen, linken Theoretiker bauten nun die Emanzipationslehre des parteigeführten Marxismus um: nicht mehr der Mechanismus der kapitalistischen Ökonomie sollte den Weg zur „Befreiung“ ebnen. Statt dessen rückten die westliche Kultur und deren angeblich „repressiver“ Charakter in das Zentrum ihrer Arbeit. Dabei konnten sie sich auf Vordenker wie Georg Lukács oder Antonio Gramsci berufen, deren Einfluß auf die Frankfurter Meisterdenker schlechterdings nicht zu unterschätzen ist. Das utopische Ziel einer neuen Gesellschaft mit einem neuen, von Ausbeutung und Entfremdung befreiten Menschen blieb identisch, nur die Mittel des Emanzipationskampfes und der Massenbeeinflussung waren ausgetauscht worden. Im Laufe mehrerer Jahrzehnte breiteten sich die Impulse dieser Denker in den USA (und in ganz Westeuropa) aus; der Kulturmarxismus war zu einer auch politisch wirkmächtigen neuen Ideologie im Westen geworden.

Masseneinwanderung, aggressive Minderheitenpolitik, Gleichheitsexzesse, Beschränkung der Denk- und Redefreiheit. Der Schmierstoff all dieser Vorgänge ist die Politische Korrektheit, deren Grund kulturmarxistische Vordenker gelegt haben.

Doch die deutschlandkundigen Intellektuellen der „Frankfurter Schule“ hatten während des Zweiten Weltkrieges dem amerikanischen Geheimdienst bei der Bekämpfung des Nationalsozialismus nützliche Dienste erwiesen. Ebenso nützlich waren ihre Kenntnisse bei der „Reeducation“ (Umerziehung) und Entnazifizierung der Westdeutschen nach 1945. Doch als die auf neomarxistischem Denken fußenden Umerziehungsimpulse (Stichwort: Erklärung des Nationalsozialismus) immer auffallender die Amerikaner selbst betrafen, begann man sich zu wehren. Das Schlagwort des „Cultural Marxism“ war geboren und befeuert seit den neunziger Jahren und seit Obamas Wahlsiegen in gesteigertem Maße die amerikanischen Auseinandersetzungen. Gründet sich in Amerika eine neue konservative Zeitschrift, wird sie mit Beiträgen zur Erklärung jenes Terminus eröffnet. Die ideologische Entwicklung des linken Emanzipationsdenkens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die bislang ungebrochen ist, und seine Erfolge verlangten nach einer Erklärung.

Die Rede vom „Cultural Marxism“ transportiert unzweifelhaft einen wahren und ausbaufähigen Kern. Dennoch ist die selbstkritische amerikanische Diagnose aber vor allem ein politisches Kampfmittel, womit zusammenhängen mag, daß manche historische oder philosophische Detailfrage vereinfacht beziehungsweise ausgeblendet wird. Die ausschließliche Fixierung auf die „Frankfurter Schule“ übersieht andere Momente und Strömungen, die mindestens ebenso einflußreich waren. Die von Frankreich ausgehende und von dem US-Philosophen Allan Bloom als paradox kritisierte „Nietzschea­nisierung der Linken“, der gleichfalls ein Krisenbewußtsein des traditionellen Marxismus voranging, ist zum Beispiel ein weiterer Groß-Impuls gewesen bei der Entstehung des Phänomens Kulturmarxismus. Ein anderer hängt mit dem Namen Judith Butler zusammen. Das neue Zauberwort lautet stets „Dekonstruktion“. Seitdem dreht sich das ideologische Karussell immer schneller: Masseneinwanderung, Parallelgesellschaften, aggressive Minderheitenpolitiken, Genderismus, Gleichheitsexzesse, Beschränkung der Denk- und Redefreiheit. Der Schmierstoff all dieser Vorgänge ist die Politische Korrektheit. Ihre kulturmarxistischen Vordenker indes genießen heute Kultstatus und gelten als klassische Geistesheroen.

Daß die amerikanischen Konservativen mit ihrer Diagnose den Nerv des Zeitgeistes getroffen haben, darf indes als sicher gelten, aufgeschreckte linke Kritiker bekämpfen sie und operieren mit den bewährten Strategien der Diffamierung und Delegitimierung. Doch die Auseinandersetzung weist auch ganz neuartige Methoden auf: Seit einigen Monaten ist der Artikel „Cultural Marxism“ aus der englischsprachigen Wikipedia verschwunden – ein bemerkenswerter Vorgang. Wer sich zu diesem in den Vereinigten Staaten umfassend diskutierten Themenbereich informieren will, wird nunmehr auf das abschreckende Schlagwort der linken Kritiker von der„Cultural Marxism conspiracy theory“ verwiesen. Der Eindruck ist nicht von der Hand zu weisen, daß die Macht der Politischen Korrektheit, der die deutsche Wikipedia ihren berüchtigten Linksdrall verdankt, auch in „God’s own country“ unaufhaltsam auf dem Vormarsch ist.

Thomas Kuzias, Jahrgang 1963, Ingenieursstudium in der DDR, ab 1990 Studium der Philosophie und Politikwissenschaften in Halle/Salle und Cardiff (Wales). Lebt als Publizist in Leipzig.