© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/15 / 01. Mai 2015

Das vergessene Erbe eines Pioniers
Als Naturschutz selbstverständlich Heimatschutz war: Eine Erinnerung an den Ornithologen und Museumsdirektor Hermann Reichling
Heiko Urbanzyk

Er gilt als Pionier des Naturschutzes, der Naturfotografie und des Naturfilms in Westfalen und wäre am 24. Januar 125 Jahre alt geworden: Hermann Reichling. Der nach Münster Zugezogene ebnete den Weg vom veralteten Schutz einzelner Objekte hin zum modernen Landschaftsschutz. „Nirgendwo gab es zu Reichlings Zeiten so viele geschützte Bereiche wie in Westfalen“, schreibt der Reichling-Experte Bernd Tenbergen vom Naturkundemuseum Münster.

Zwanzig Prozent aller preußischen Naturschutzgebiete befanden sich 1932 im Land der roten Erde. Reichlings Fotografien und Filme dokumentieren in einmaliger Weise Menschen, (unberührte) Natur und Städte im Westfalen des frühen 20. Jahrhunderts. Bisher fand eine Aufarbeitung seines Lebenswerkes kaum statt; der größte Teil seiner Bilder und Filme ist unveröffentlicht, da in unzugänglichem Privatbesitz. Doch nach und nach lüften der Westfälische Heimatbund und der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) gemeinsam mit Reichlings Nachfahren den Schleier. Den Anfang machte Tenbergen mit einem Beitrag in Heimatpflege in Westfalen. Eine Wanderausstellung soll 2016 folgen.

Er fertigte aufwendige

Filmdokumentationen an

Nach dem Studium der Naturwissenschaften, insbesondere der Ornithologie, und Philosophie an der Uni Münster tritt der 1890 in Heiligenstadt (Eichsfeld) geborene Reichling 1919 seine Direktorenstelle am Naturkundemuseum in Münster an. Er ist beseelt von dem Vorhaben, den unwiederbringlichen Verlust westfälischer Pflanzen und Tiere zu verhindern.

Früh setzt er sich in einer Zeit, in der Naturschutz selbstverständlich Heimatschutz war, dafür ein, im Rahmen der Museumsarbeit die heimatliche Umwelt genau zu erforschen und die Ergebnisse wissenschaftlich zu verwerten. Unter Reichling werden erstmals wissenschaftliche Sammlungen angekauft und der Museumsbau stark erweitert. Der Schwerpunkt lag auf einer Vogel- und Säugetiersammlung präparierter westfälischer Tiere. Reichling sorgt nach dem Ersten Weltkrieg dafür, daß das Museum 1925 wieder geöffnet wird.

1926 wird er Geschäftsführer des neugegründeten Westfälischen Provinzialkomitees für Naturdenkmalpflege. Im selben Jahr findet unter seiner Regie die erste öffentliche Naturschutzausstellung Westfalens statt.

Reichling bereist Westfalen auf der Suche nach schützenswerten Gebieten. Entdeckt er eines, versucht er laut Tenbergen die entsprechenden Gemeinden zum Ankauf zu bewegen, um Naturschutzgebiete einzurichten. Das bis heute geschützte Gebiet „Großes Heiliges Meer“ erwirbt der Provinzialverband 1927 gleich selbst, da es „wegen der Ursprünglichkeit und Unberührtheit noch heute eine beträchtliche Anzahl von Arten aufweist, die infolge der fortschreitenden Kultivierung der Moore und Trockenlegung der Gewässer schon äußerst selten geworden sind“, wie Reichling den Kauf begründet.

Das neue Medium des Films macht sich der Museumsdirektor zunutze und fertigt aufwendige Dokumentationen an, zum Beispiel 1929 über die Dülmener Wildpferde und 1930 über das Balzen des Birkhahns. Auf seinen Fotografien dokumentiert er die Umgestaltung der Landschaft durch Torfabbau und Steinbrüche. Die westfälischen Krammetsvogelfänger verewigt er ebenso auf Glasplatten wie Marktbeschicker, Torfstecher, Bauern und Zigeunerfamilien. Das Material wird derzeit digitalisiert und für die Veröffentlichung vorbereitet.

Nach der Machtergreifung Hitlers wird der Ornithologe Ende 1933 aus sämtlichen Ämtern entlassen. Nach mehreren Gefängnisaufenthalten endet er im Konzentrationslager Esterwegen im Emsland. Tenbergen berichtet, der in Haft schwer mißhandelte Naturschützer sei im September 1934 auf direkte Anordnung Hermann Görings entlassen worden. Reichlings Bruder hatte beim Reichsforst- und Reichsjägermeister sowie obersten Naturschutzbeauftragten Göring auf die Verdienste des geschaßten Bruders hingewiesen. Seine Wärter werden sogar wegen der Körperverletzungen verurteilt.

Gründe für die

Strafverfolgung nach 1933

Reichling wehrt sich nach der Haft und zwischenzeitlichen Rückkehr ins Amt des Museumsdirektors juristisch gegen seine erneute Amtsenthebung sowie weitere Denunziationen – durchaus mit Erfolg. Um endlich Ruhe nach Münster zu bringen, wie Tenbergen der jungen freiheit sagt, habe er schließlich von 1936 bis 1945 bei vollem Sold den Auftrag zur Erforschung der Natur des Dümmers erhalten. Reichling habe sich 1938 mit einem umfangreichen Fotoalbum über die Pflanzen- und Tierwelt des Dümmers bei Göring bedanken wollen, dessen Übergabe in Berlin jedoch verhindert worden sei. Jegliche Kontakte zu den Naturschutzstellen in Berlin und Westfalen seien ihm fortan verweigert worden. Es blieb ein Forscherleben in der Isolation am idyllischen Dümmer, dem die Nachwelt wertvolle Erkenntnisse und Filmaufnahmen, zum Teil in Farbe, verdankt. „Ein Glückfall für den Dümmer“, sagt Tenbergen. Gerade in der Kriegszeit habe sonst niemand einen freien Kopf für solche Themen gehabt.

Über die Gründe für die Strafverfolgung ab 1933 gibt es verschiedene Versionen. Nach Ausführungen von Almuth Leh könnten einerseits rein wissenschaftliche Differenzen mit Kollegen zu Intrigen geführt haben. Nach anderen Quellen soll ihm seine mangelnde Unterstützung lokaler Naturschutzprojekte politische Denunziationen eingebracht haben, und laut Aussagen eines Sohns Hermann Reichlings sollen ihm systemkritische Äußerungen den Ärger beschert haben – nichts davon war gerichtlich belegbar. Tenbergen betont gegenüber der JF, daß Reichling weder NSDAP-Mitglied noch Wehrmachtssoldat war. Bereits im Ersten Weltkrieg sei er als untauglich ausgemustert worden. Andererseits sei nicht bekannt, daß er in offener Gegnerschaft zum NS-Staat gestanden habe. „Wir wissen nur: Er hat sich nichts zuschulden kommen lassen“, konstatiert Tenbergen.

Im Juli 1945 wird Reichling wieder zum Direktor des Naturkundemuseums und Landesbeauftragten für Naturschutz in Westfalen, außerdem Direktor des durch alliierte Fliegerbomben zerstörten Münsteraner Zoos. 1947 stirbt er mit 57 Jahren, mutmaßlich noch an den psychologischen Folgen seiner Haft. Seine erzwungene Bedeutungslosigkeit vermochte er im kurzen Nachkriegsleben nicht mehr aufzuholen.

„Die besondere Leistung Reichlings“, erläutert Tenbergen, liege darin, daß er „die beginnenden Landschaftsveränderungen frühzeitig erkannte und filmisch und fotografisch in professioneller Weise dokumentierte“. Ein Pionier eben.

Kontakt: LWL-Museum für Naturkunde, Sentruper Str. 285, 48161 Münster

www.lwl.org