© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/15 / 01. Mai 2015

Eine Insel betritt Neuland
Großbritannien: Die Parlamentswahlen am 7. Mai werden zum folgenschweren Kopf-an-Kopf-Rennen
Martin Schmidt

Im britischen Wahlkampf wirkt manches seltsam vertraut, vieles ist aber auch ganz anders, gewissermaßen „very British“. Da gibt es auf der Insel eine große Regierungspartei, die Tories von Ministerpräsident David Cameron, mit dem Etikett „konservativ“, die ähnlich wie CDU/CSU immer weniger konservativ im eigentlichen Sinne ist. Ferner existiert eine Arbeiterpartei, Labour, die – wie die SPD – kaum noch die Interessen des einheimischen „kleinen Mannes“ vertritt, sondern sich vorrangig als Fürsprecher von Migrantenlobbies versteht. Und es gibt mit den Liberaldemokraten eine ähnlich konturenlose liberale Partei wie die deutsche FDP.

Wieder einmal versprechen Spitzenpolitiker vor der Unterhauswahl am 7. Mai auch auf der Insel den Wählern das Blaue vom Himmel. So kündigte Regierungschef Cameron mit Blick auf die sozial schwachen Schichten an, daß niemand, der dreißig Wochenstunden für den Mindestlohn oder weniger arbeite, künftig noch Steuern zahlen müsse. Zur Eindämmung der massiven Krise auf dem Wohnungsmarkt vor allem in London stellte er Fördermittel für den Bau von 400.000 neuen Wohnungen in Aussicht.

Parteirechte setzt Premier Cameron unter Druck

Labour dagegen gelobt fiskalische Zurückhaltung. In dem am 13. April vorgestellten Wahlprogramm der Partei heißt es gleich zu Beginn: „Eine Labour-Regierung wird das Defizit in jedem Jahr verringern.“ Ob ihr die Wähler das glauben, wenn sie sich an die jahrzehntelange Bereitschaft gerade der politischen Linken zum Aufblähen der Staatsausgaben, zum Schuldenmachen beziehungsweise zur Erhebung immer neuer Steuern erinnern, ist fraglich.

Ganz ohne „Wahlkampfgeschenke“ – speziell an die mutmaßlichen Stammwählergruppen – kommt aber auch die Arbeiterpartei nicht aus: der Mindestlohn soll erhöht, die Studiengebühren gesenkt, die Kinderbetreuung in Grundschulen ausgebaut und der nationale Gesundheitsdienst besser finanziert werden.

Ebenfalls nicht überraschend sind die Labour-Bekenntnisse zur EU-Mitgliedschaft Großbritanniens. Der frühere Premier Tony Blair mahnte am 7. April nicht nur einen „Schatten der Unvorhersehbarkeit“, sondern drohende Rezession und Chaos für sein Land an, sollte es ein „No“ zur Europäischen Union geben.

Der Daily Telegraph kommentierte dies am Folgetag mit beißender Kritik: „Wenn etwas den EU-Austritt Großbritanniens wahrscheinlicher gemacht hat, dann war es über mehrere Jahre der Widerwille Blairs und anderer politischer Führer, sich den zentralistischen Ambitionen Brüssels entgegenzustellen. Sie haben sich zusammengetan, um Europa in etwas zu verwandeln, das nicht mehr der quasi-politischen Vereinbarung für gemeinsamen Handel entspricht, für die die Briten bei ihrem Beitrittsreferendum 1975 gestimmt hatten.“

Die Tories sind in der Frage innerlich zerrissen, halten aber für den Fall eines Wahlsieges an dem Versprechen einer Volksabstimmung über die EU-Zugehörigkeit im Jahr 2017 fest. Der aufmüpfige rechte Parteiflügel übt erheblichen Druck aus, zumal er mehr oder weniger deutlich mit der europapolitischen Fundamentalopposition der United Kingdom Independence Party (Ukip) sympathisiert und weitere Überläufer zur Konkurrenzpartei drohen.

Vor diesem Hintergrund wird besonders verständlich, warum Cameron das konservative, mit den Tories schon länger unzufriedene britische Bürgertum am 19. April eindringlich aufforderte, seine Partei und nicht die Ukip zu wählen, um eine Links-Koalition zu verhindern.

Die Ukip ist erklärter Hauptgegner des Westminster-Establishments. „Believe in Britain“ (Glaube an Großbritannien) heißt das Leitmotto ihres Wahlkampfes. Mit Nigel Farage besitzt sie einen intern unangefochtenen Vorsitzenden, dessen Rhetorik seine politischen Gegner regelmäßig das Fürchten lehrt.

In der Frage der Massenzuwanderung zwang die Independence Party die Altparteien dazu, den besorgten Wählern Eindämmungsmaßnahmen zu versprechen. Jedoch bleiben diese vage, während der mit einer Hamburgerin verheirate Farage ein Punkte-System für mögliche Zuwanderer nach australischem Vorbild vertritt.

Ungeschminkt weist seine Partei auf Zusammenhänge der Massenzuwanderung mit der akuten Wohnungskrise und der aufs äußerste angespannten Finanzlage im Gesundheitssystem hin. Darüber hinaus fordert Ukip eine Erhöhung der Militärausgaben. Auch Nigel Farage wartete zuletzt mit Bekundungen des Verständnisses für „taktisches Wählen“ auf, was gemeinhin als Aufruf zur punktuellen regionalen Unterstützung der Tories verstanden wird.

Der vielleicht schwerwiegendste Unterschied zwischen der politischen Lage auf der britischen Insel und in Deutschland ist das dort geltende Mehrheitswahlrecht, das Neulingen wie der landesweit kandidierenden Ukip eine schwierige Ausgangssituation beschert, während es nur regional antretenden Parteien wie den schottischen oder walisischen Nationalisten Vorteile bietet.

Schotten als Zünglein

an der Waage

„The first past the post“ heißt das Motto im Ringen um die 650 Unterhaussitze, was bedeutet, daß in den Wahlkreisen allein die Stimmen für die jeweils stärkste Partei und deren Bewerber zählen und ins nationale Gesamtergebnis einfließen. Obwohl Ukip landesweit ein deutlich zweistelliges Resultat vorhergesagt wird, könnte es nur für eine Handvoll Sitze reichen. Parteien wie die Grünen, die den Umfragen zufolge kaum mehr als fünf Prozent der Stimmen auf sich vereinigen werden, verschwinden wegen des Wahlrechts in der Bedeutungslosigkeit.

Einer Umfrage von YouGov für die Sun zufolge kommt Labour aktuell auf 34 Prozent und die Konservativen auf 33. Die Liberaldemokraten um ihren Chef Nick Clegg landen demnach bei acht bis zehn Prozent, und Ukip liegt zwischen 13 und 18 Prozent.

Hinsichtlich der Sitze liefern sich Camerons Konservative und Ed Milibands Labour mit jeweils rund 270 Mandaten ebenfalls ein Kopf-an-Kopf-Rennen, während die in der Vergangenheit regelmäßig als Mehrheitsbeschaffer fungierenden Liberalen auf bloß noch 35 Unterhausmandate (bislang: 57) geschätzt werden.

Klare Mehrheiten dürfte es im nächsten Unterhaus nicht geben. Das lange prägende Zweiparteiensystem scheint am Ende zu sein. Ganz gleich, ob die für die kommenden fünf Jahre amtierende Londoner Regierung aus der sozialistischen Labour Party mit Duldung durch die gesellschaftspolitisch eher linksgerichtete schottische Nationalpartei (SNP) gebildet wird, oder ob die Tories stärkste Kraft bleiben und die nordirische DUP mit rund zehn Sitzen oder gar die Ukip mit ins Boot holen – die Folgen wären weitreichend.

Im ersteren Fall würde die SNP unter Führung von Parteichefin Nicola Sturgeon Bedingungen stellen, die aus dem Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland schon bald einen losen Verbund weitgehend selbständiger, autonomer Föderationsglieder werden ließe. Die schottische Nationalbewegung strotzt derzeit – dem verlorenen Unabhängigkeitsreferendum vom 18. September 2014 zum Trotz – vor Selbstbewußtsein. Die Zahl der SNP-Parteimitglieder konnte seither verfünffacht werden. Die SNP liegt im eigenen Stammland – einer traditionell wichtigen Labour-Hochburg – den Umfragen zufolge über 20 Prozentpunkte vor der hier möglicherweise regelrecht abstürzenden Partei Ed Milibands. Sie kann auf über 50 Sitze hoffen.

Offene Koalitionsaussagen zugunsten der SNP lehnt Labour ab, da sie insbesondere im dichtbevölkerten, tendenziell konservativen und „britisch“ denkenden Mittelengland eine verheerende Wirkung entfalten könnten.

Foto: Die Hauptprotagonisten des Wahlkampfes Ed Miliband (Labour), David Cameron (Tories), Nicola Sturgeon (Scottish National Party), Nick Clegg (Liberal Democrats) und Ukip-Chef Nigel Farage (v.l.): Klare Mehrheiten wird es im nächsten Unterhaus nicht geben. Labour und Tories liegen in Umfragen gleichauf