© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/15 / 01. Mai 2015

Stochern im Nebel
Bundeswehr: Auch nach dem vorläufigen Aus für das Sturmgewehr G36 bleiben viele Fragen unbeantwortet
Hans Brandlberger

Die Reihe der Pannen bei wichtigen Rüstungsvorhaben der Bundeswehr reißt nicht ab. Seit der vergangenen Woche steht endgültig auch das Sturmgewehr G36 auf der langen Liste der Problemfälle. Mehr als 178.000 Stück hat die Bundeswehr seit der Einführung der Handwaffe im Jahr 1997 beschafft. Für sie gibt es nun, so Ursula von der Leyen (CDU) in der vergangenen Woche vor dem Verteidigungsausschuß des Bundestages, in ihrer derzeitigen Konstruktionsart keine Zukunft in der Truppe.

Mit ihrer Entscheidung, die eine Kehrtwende darstellt, hat die Ministerin ohne weitere Bedenkzeit die Schlußfolgerung aus einer Untersuchung gezogen, die das „Integrierte Expertenteam Kleinkaliber“ in ihrem Auftrag vorgenommen hat. In ihrem auszugsweise an die Öffentlichkeit gelangten Gutachten kommen die Fachleute der Bundeswehr zu dem Ergebnis, daß die Treffwahrscheinlichkeit mit Standardeinsatzmunition bei einer Schußfrequenz, die einem intensiv geführten Gefecht nahe kommt, schnell und dramatisch sinkt – von knapp über 90 auf unter 25 Prozent. Noch drastischer wirken sich Umwelteinflüsse wie Feuchtigkeit und Temperatur aus. Muß der Soldat die Waffe bei 45 Grad statt bei 15 Grad einsetzen, falle die Treffwahrscheinlichkeit sogar auf durchschnittlich sieben Prozent ab, und er könne das Ziel nicht einmal mit dem ersten Schuß zuverlässig bekämpfen. Diese ernüchternde Leistungsbilanz sei auch bei einer Standardwaffe, die naturgemäß simpler und kostengünstiger als eine Spezialwaffe ist, nicht zwangsläufig. Das Vergleichsschießen habe ergeben, daß deutlich bessere Ergebnisse nahe an der geforderten Treffwahrscheinlichkeit von 90 Prozent technisch möglich seien.

Was wie ein klares wissenschaftliches Fazit und eine durch sie nahegelegte politische Entscheidung erscheint, wirft bei näherem Hinsehen jedoch einige Fragen auf – insbesondere wenn es gilt, irgend jemandem die Verantwortung für das Problem zuzuweisen.

Als das G36 in Nachfolge des alten G3 in der ersten Hälfte der neunziger Jahre auf den Weg gebracht wurde, waren Einsätze in klimatischen Zonen, wie sie Afghanistan, Mali oder der Irak repräsentieren, unvorstellbar. Eine innovative Neuentwicklung in Gestalt des G11, in die man bereits einen zweistelligen Millionenbetrag investiert hatte, wurde verworfen, man setzte, der heutigen Beschaffungsphilosophie nicht unähnlich, auf eine Lösung, die am Markt bereits verfügbar wäre. Im Mittelpunkt stand die Forderung, durch das in der Nato gängig gewordene Kaliber 5,56 Millimeter x 45 die logistische Versorgung in multinationalen Einsätzen zu vereinfachen. Die ballistischen Schwächen dieses Kalibers bei der Bekämpfung des Feindes über eine größere Entfernung haben sich aber in allen robusten Einsätzen der jüngsten Zeit bestätigt. Da ein einziger Gewehrtyp nicht zugleich allen denkbaren Szenarien gerecht werden kann, schwenkten zahlreiche Partnernationen auf das Konzept um, ihren Infanteriekräften einen Handwaffenmix anzubieten, aus dem sie dann je nach Missionsart die passende Ausrüstung auswählen können. Auch in der Bundeswehr scheint diese Idee mehr und mehr an Fürsprechern zu gewinnen.

Ein nicht unwesentlicher Vorzug, der das G36 gegenüber seinem Vorgänger auszeichnen sollte, war die Gewichtsreduzierung. Leichter ist das G36, da in ihm mehr Kunststoffteile verbaut sind. Auch der Laufhalter besteht aus einem Verbundpolymer, der, so die Auffassung des Expertenteams, bereits ab einer Temperatur von 23 Grad weicher wird und die Position des Laufs verändert. Der Hersteller, Heckler & Koch, widerspricht dieser Behauptung nachdrücklich.

Auch wenn weitere Gutachten, auf die der Oberndorfer Waffenproduzent drängt (siehe Seite 13), die attestierten Defizite des G36 bestätigen sollten, ist derzeit nicht von einem Herstellerversagen auszugehen. Im Verteidigungsausschuß hat die Ministerin betont, daß sie Heckler & Koch keinen Vorwurf mache. Es sei lediglich ihre Pflicht zu prüfen, ob das Sturmgewehr auch heute noch einsatzfähig sei. In die Medienberichterstattung haben diese differenzierenden Ausführungen jedoch nur selten Eingang gefunden. Der dem Unternehmen daraus erwachsende Reputationsschaden ist beträchtlich. Tatsächlich liegt es nach zwei Jahrzehnten auf der Hand, daß das G36 technologisch nicht mehr auf dem neuesten Stand ist. Heckler & Koch hat längst modernisierte Versionen entwickelt, die, etwa für das System „Infanterist der Zukunft“, auch von der Bundeswehr beschafft wurden.

Eine Kommission unter Leitung des ehemaligen Bundestagsabgeordneten Winfried Nachtwei (Grüne) soll nun der Frage nachgehen, ob durch die Schwächen des G36 das Leben von Soldaten in Afghanistan gefährdet wurde. Indizien dafür gibt es nicht. Auch aus anderen Streitkräften, die das G36 nutzen, sind keine Beanstandungen bekannt, ebenso- wenig von den kurdischen Peschmerga, die das Sturmgewehr für den Kampf gegen die IS-Terroristen erhielten.

Es waren offenbar vielmehr Ausbilder im Heimatland, die in der Vorbereitung der Einsatzkontingente auf Probleme beim G36 stießen. Sie ließen auch nicht locker, als die Bundeswehr eine Untersuchung präsentierte, die mangelhafte Munition des Herstellers Metallwerke Elisenhütte Nassau (MEN) als Ursache auswies. Unterstützung fanden sie durch Experten der Bundeswehr, die fest davon überzeugt waren, daß die Fehler im Gewehr selber lägen. Diese Beamten werden von Heckler & Koch in außergewöhnlich unwirschen Presseverlautbarungen der Voreingenommenheit bezichtigt.

Nachfolgewaffe könnte von Heckler & Koch kommen

Ganz gleich, ob das G36 modernisiert oder eine Ersatzbeschaffung vorgenommen wird: Der Industrie winkt ein lukratives Geschäft. Die Frage, welches Sturmgewehr es denn gewesen sein könnte, das in den Untersuchungen deutlich besser abschnitt, ist daher von besonderem Interesse. Experten meinen, daß es sich nur um das HK416, ebenfalls von Heckler & Koch, handeln kann. Von diesem verfügt die Bundeswehr, so der Hersteller, aber nur über die Sonderausführung eines leichten Maschinengewehrs und nicht über die Version Standard-Sturmgewehr. Ein Vergleich mit dem G36 sei daher waffentechnisch ohne Aussagekraft. Auch diese Ungereimtheit zeigt: Der Nebel über dem Skandal, der im Kern vielleicht gar keiner ist, hat sich längst noch nicht verzogen.