© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/15 / 01. Mai 2015

„Politik ist ein Blutsport“
Am 7. Mai wählt Großbritannien ein neues Unterhaus. Erstmals könnte Nigel Farages Ukip einziehen. Der britische Konservative Frederick Forsyth, international bekannter Schriftsteller und EU-Kritiker, ist skeptisch
Moritz Schwarz

Herr Forsyth, wen wählen Sie am 7. Mai?

Forsyth: Das bleibt mein Geheimnis.

Als bekannter EU-Kritiker können Sie doch gar nicht anders, als für Ukip zu stimmen, da nur diese Partei mit ihrer EU-Kritik authentisch ist.

Forsyth: Ich will Ihnen mal etwas sagen, es gibt zwei Kategorien von Wählern: zum einen die Träumer und zum anderen die Realisten. Die Träumer wollen glauben, daß die Probleme des Landes einfach sind. Demnach gibt es simple Lösungen, und das Paradies ist nahe.

Suggerieren das nicht alle Parteien?

Forsyth: Sicher, sämtliche Parteien versuchen dem Wähler einzureden, sie allein hätten die Antwort und würden diese nach einem Wahlsieg prompt umsetzen. Das stimmt natürlich nicht, und insofern lügen sie alle so lange, bis eine den Wahlsieg davonträgt.

Sie aber zählen sich zu den Realisten?

Forsyth: Gemach. Die Realisten unter den Wählern verstehen, daß Politik die Kunst des Möglichen ist, und sie verstehen auch, daß sehr wenig möglich ist – erst recht kurzfristig. Daher schenken sie den übertrieben optimistischen Versprechen der Parteien wenig Glauben, sondern geben ihre Stimme demjenigen, der am ehesten in der Lage zu sein scheint, wenigstens einen Bruchteil dessen zu erreichen, was die Wähler wollen.

Wollen Sie damit andeuten, daß und warum Sie die Tories wählen?

Forsyth: Drängeln Sie doch nicht so, hören Sie lieber zu, was ich Ihnen zu erklären versuche: 2010 gewannen die Tories nach einem – zugegeben – erbärmlich inkompetenten Wahlkampf zwar die meisten Sitze im Unterhaus, errangen jedoch keine klare Mehrheit. So blieb David Cameron nur, eine Koalition mit den Drittstärksten einzugehen, den LibDems, den Liberaldemokraten, mit 52 von 650 Sitzen.

Gut, aber zum Beispiel der ehemalige persönliche Mitarbeiter Camerons, Douglas Carswell, sagte in einem Interview mit dieser Zeitung: „Ich dachte lange, die Tories seien eine konservative Partei. Nein, die Tories haben den Kompaß verloren! ... Ich glaube, daß David Cameron keine konsistente eigene Position hat, daß es ihm nicht darum geht, Inhalte zu verwirklichen, sondern darum, Premierminister zu sein.“

Forsyth: Tatsache ist doch, daß trotz der klaren Mehrheit der Koalition für David Cameron der Ärger nun erst anfing. Die Tories konnten keinen einzigen Gesetzentwurf gegen den Willen der LibDems durchsetzen. Und die Vorgänger-Regierung unter Gordon Brown hatte eine Volkswirtschaft im Krisenzustand vererbt. Camerons Versuche, den Schaden zu beheben, waren dennoch weitgehend erfolgreich, weil die Liberalen sie unterstützt haben. Andere Initiativen hingegen scheiterten, weil die LibDems sie nicht mitgetragen haben.

Cameron lediglich ein Opfer der Libe­ral­demokraten?

Forsyth: Ich will Ihnen drei Beispiele geben. Erstens: Auf Drängen des EU-skeptischen Parteiflügels wollte Cameron die himmelschreienden Bedingungen der britischen EU-Mitgliedschaft neu verhandeln und eine Strukturreform der EU durchsetzen, um die neuen Bedingungen anschließend den Bürgern zur Abstimmung vorzulegen. Doch zur Durchführung einer Volksabstimmung muß das Parlament erst ein entsprechendes Gesetz verabschieden, und die LibDems lehnen eine Volksabstimmung zur EU-Mitgliedschaft mit oder ohne Reform standhaft ab. Insofern ist Ukips ständiges Drängen nach einer Volksabstimmung ein zynisches Wahlkampfmanöver. Nigel Farage weiß ganz genau, daß sie zu keinem Zeitpunkt während der vergangenen fünf Jahre möglich gewesen war.

Sie wollen sagen, Farage führt die Wähler an der Nase herum?

Forsyth: Farage ist kein Dummkopf, aber er appelliert an Millionen von ebensolchen. Dies sind die bereits erwähnten Träumer. Einmal mit den Fingern geschnipst, und schon gehen alle Wünsche in Erfüllung!

Allerdings hat Cameron für den Fall seiner Wiederwahl ein Referendum für 2017 fest versprochen.

Forsyth: Wenn es erneut zu einer Koalitionsregierung kommt, wäre ein solches Gesetz weiterhin unmöglich. Labour und die Liberaldemokraten würden es zusammen vereiteln. Also wird es keine Volksabstimmung geben. Aber lassen Sie mich Ihnen noch ein zweites Beispiel geben: Die Tories wollten Tony Blairs „Human Rights Act“ außer Kraft setzen. Ein Menschenrechtsgesetz – das klingt gut –, aber in der Praxis zwingt es britische Gerichte, die Abschiebung von Berufsverbrechern, einschließlich Mördern, Vergewaltigern und Kinderschändern, zu verhindern, wenn diese sie unter Berufung auf ihre Menschenrechte anrufen. Wieder waren es die Liberaldemokraten, die sich vehement gegen eine Reform gesperrt haben. Drittes Beispiel: In Großbritannien sind die Wahlkreise durch die demographischen Entwicklungen in den Jahrzehnten seit der letzten Reform mittlerweile eine irrwitzige Entstellung der politischen Realität. Auch hier ist ein parlamentarischer Erlaß erforderlich, um das entsprechende Gremium, die Boundaries Commission, zu bevollmächtigen, in den schlimmsten Fällen die Wahlkreise neu zu ziehen. Doch bei einer Reform würden sowohl Liberaldemokraten als auch Labour Wahlvorteile einbüßen. Daher stemmen sie sich mit vereinten Kräften auch dagegen. Das sind wie gesagt nur drei von vielleicht zehn Reformen, die Cameron gerne durchgesetzt hätte, wenn ihm die LibDems nicht einen Strich durch die Rechnung gemacht hätten.

Und folglich ist Ukip populitischer Schwindel, wollen Sie das sagen?

Forsyth: Ich halte Nigel Farage für einen totalen Opportunisten. Der leut- und bierselige Trinkkumpan, den er gerne gibt, ist nur Schau. Er hat ein weitverbreitetes Gefühl der Enttäuschung oder gar Verbitterung angesichts des Status quo erkannt und es als Anführer einer Protestpartei verstanden, sich diese Enttäuschung zunutze zu machen. Lösungen hat er jedoch keine zu bieten.

Na ja, er hat etwa in puncto EU durchaus konkrete Vorstellungen.

Forsyth: Selbst wenn es Ukip gelänge, sagen wir, zwei Dutzend der 650 Parlamentssitze zu gewinnen – und das ist sehr optimistisch geschätzt –, hätte Farage keine Chance, die Volksabstimmung über die EU-Mitgliedschaft durchzusetzen, die er jedesmal verspricht, wenn er den Mund aufmacht. Ebenso verspricht er, der Masseneinwanderung aus Ost­eu­ro­pa ein Ende zu setzen. Die EU-Gesetze sind in dieser Frage jedoch unnachgiebig und finden etwa in Angela Merkel eine leidenschaftliche Verfechterin. Die absolute Freizügigkeit ist nicht verhandelbar. Deswegen bleibt Großbritannien auch weiterhin nicht nur ein Magnet, sondern ein Mega-Magnet für Einwanderer aus den Ländern östlich des ehemaligen Eisernen Vorhangs – pro Jahr kommen über eine Viertelmillion. Deutschland folgt proportional zur Gesamtbevölkerung gemessen an zweiter Stelle.

Farage verspricht nicht, das Problem zu lösen – dazu müßte er in der Tat regieren –, aber es zumindest anzugehen.

Forsyth: Farage weiß ganz genau, daß er sein Versprechen unmöglich halten kann, und nur die Träumer schenken ihm Glauben. Nein, Ukip ist im wesentlichen eine Protestpartei, und Protest ist die einfachste Sache der Welt. Pro Tag eintausend neue Arbeitsplätze zu schaffen, ist viel schwieriger – aber genau das haben die Konservativen erreicht. Und Cameron hofft, daß sich die Wähler am 7. Mai genau daran erinnern.

Die deutschen Medien stellen Ukip immer wieder als ausländerfeindlich dar. David Cameron nannte die Partei sogar einmal „rassistisch“. Trifft das zu?

Forsyth: Ukip ist weder ausländerfeindlich noch rassistisch. Farages Ehefrau ist Deutsche. Die Partei hat schwarze Kandidaten und Kandidaten mit indischem oder pakistanischem Hintergrund.

Wie kommen die deutschen Medien dann darauf?

Forsyth: Das müßte ich Sie fragen.

Sie sind selbst EU-Kritiker, müßte Ukip Sie da nicht ansprechen?

Forsyth: Wogegen Ukip sich wehrt, ist die rücksichtslose Übertragung der Souveränität von London nach Brüssel, also von einem gewählten Parlament, das dem Volk Rechenschaft schuldet, zu einem bürokratischen Apparat. Als Abgeordneter des Europaparlaments weiß Farage aus eigener Erfahrung, was für ein unglaublich teurer Betrug diese Sache ist. Offizielle Londoner Quellen geben zu, daß mittlerweile fünfzig Prozent aller britischen Gesetze in Brüssel gemacht werden. In Wirklichkeit sind es eher siebzig Prozent, und das gilt genauso für Deutschland. Es stimmt, die Regierungen unserer beiden Länder verkommen zu protzigen Fassaden.

Im Februar erschien der „Economist“ mit dem Titelbild „Großbritanniens neue politische Landschaft“ und plazierte Nigel Farage im Zentrum des Bildes.

Forsyth: Ukip steht hierzulande nur deswegen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, weil sie aus sämtlichen Wählerschichten Unterstützung erhält. Labour hatte ursprünglich gehofft, die Partei würde nur bei älteren, traditionalistischen Tory-Wählern Anklang finden. Jedoch sind unter ihren Anhängern auch frappierend viele weiße Briten aus der Arbeiterklasse, die von Billigarbeitskräften aus Osteuropa aus dem Arbeitsmarkt gedrängt werden und sich ohnmächtig und außerstande fühlen, sich politisch Gehör zu verschaffen und ihrem Groll Ausdruck zu verleihen. Was die Frage angeht, inwieweit der Aufstieg von Ukip die politische Landschaft verändern kann – nun, es ist nicht das erste Mal, daß eine Protestpartei von sich reden macht, jedoch gerät dabei immer wieder in Vergessenheit, daß ein entscheidender Faktor gegen sie arbeitet: In Großbritannien gilt das Mehrheits-, nicht das Verhältniswahlrecht. Entsprechend landet die Protestpartei bei der Auszählung der Stimmen an dritter, vierter, fünfter Stelle. Das reicht nicht. Nur wer sich in seinem Wahlkreis als Sieger durchsetzt, zieht als Abgeordneter ins Parlament ein. Die einzige „Veränderung“, die sich nach dem 7. Mai ergeben könnte, wäre eine erneute Zwei-Parteien-Koalition.

Camerons Umfragewerte liegen über denen der Tories. Warum vertrauen die Briten ihm eher als seiner Partei?

Forsyth: Unter den Führern der großen Parteien ist er als Person am attraktivsten, weswegen Millionen ihn gegenüber seinen Rivalen von Labour, Ed Milliband, und der Liberaldemokraten, Nick Clegg, sowie Nigel Farage bevorzugen. Jedoch neigen die Wähler dazu, die Partei, die regiert, für alles verantwortlich zu machen, was nicht funktioniert – etwa unser von Problemen geplagtes staatliches Gesundheitswesen –, während man ihr das, was gut läuft, selten zugute hält. Freilich sollte man sich aber nicht von der Angewohnheit britischer Wähler täuschen lassen, alles mögliche von sich zu geben, wenn ihnen jemand ein Mikrofon vor die Nase hält. Wenn sie dann in der Wahlkabine stehen, besinnen sie sich meist und setzen lieber auf die sichere Option. Auf diese Weise bleiben Extremisten bei uns in der Regel außen vor.

Der „Spectator“ glaubt, Cameron spekuliere darauf, erneut mit den Liberaldemokraten zu koalieren. Wird es so kommen?

Forsyth: Während der letzten Legislaturperiode machten die LibDems nur etwa ein Sechstel der Regierungsfraktion aus, in der Regierung selbst aber hatten sie die Hälfte der Macht. Ihr Einfluß war also überproportional hoch. Nach dem 7. Mai werden sie wahrscheinlich nur noch zwanzig Sitze haben, und es könnte sogar sein, daß Nick Clegg seinen Wahlkreis in Sheffield verliert. Für die Tories wäre das insofern ein Problem, als die Wählerbasis der LibDems weiter links steht als die Parteiführung. Das heißt, unzufriedene Wähler dürften eher zu Labour als zu den Tories wechseln.

Könnte die Schottische Nationalpartei SNP vielleicht zum Überraschungsfaktor der Wahl werden?

Forsyth: Die Scottish National Party, die hinter der Fassade des schottischen Nationalismus ebenfalls ganz links steht, wird auf keinen Fall eine Koalition mit den Tories eingehen. Es ist also durchaus möglich, daß Cameron erneut auf Clegg und die Liberaldemokraten angewiesen sein wird. Deswegen gehen beide Männer im Wahlkampf vergleichsweise behutsam miteinander um. In der Politik weiß man nie, wessen Hilfe man möglicherweise nächste Woche braucht.

Oder wird diese Wahl, falls Cameron verliert, zur Stunde seines Tory-Konkurrenten Boris Johnson?

Forsyth: Johnson ist ein überaus gewitzter Mann, der sich ebenso wie Nigel Farage als kumpelhafter Typ präsentiert. Anders als bei Cameron nehmen die Wähler ihm das ab. Er ist ein Spaßvogel mit wilder Mähne und komischen Klamotten. Dahinter verbirgt sich ein Altphilologe, der seine Ausbildung an den Eliteeinrichtungen Eton und Oxford erhielt. Seine Amtszeit als Oberbürgermeister von London läuft 2016 aus. Derweil kandidiert er für einen sicheren Sitz und wird nach dem 7. Mai zusätzlich im Unterhaus sitzen. Falls Cameron schwer angeschlagen aus den Wahlen hervorgeht und die Haie zu kreisen beginnen, um ihm die Parteiführung streitig zu machen, würde die Loyalität gegenüber einem Parteichef, der die gleiche Schule und Universität besucht hat wie Johnson selbst, keine Rolle spielen. Wenn Cameron Premierminister bleibt, ist seine Position als Parteichef sicher. Gewinnt Milliband, würde man Cameron die Schuld daran zuschieben. Politik ist ein Blutsport, in dem es keine Vergebung gibt. Johnson wird absolut loyal sein – bis zu dem Moment, in dem er zusticht. So war es schon immer, und zwar nicht nur in London.




Frederick Forsyth, der Thrillerautor „von Weltruhm“ (Neue Zürcher Zeitung) und „Scholl-Latour des Genres“ (Stuttgarter Zeitung) wurde 1997 mitseinem im Spiegel publizierten offenen Brandbrief an Bundeskanzler Kohl auch als EU-Kritiker bekannt. Der preisgekrönte Schriftsteller, Jahrgang 1938, und Kolumnist der konservativen Tageszeitung Daily Express veröffentlichte Welterfolge wie „Der Schakal“, „Die Akte Odessa“ oder „Hunde des Krieges“. 2013 landete er mit „Die Todesliste“ erneut einen „brisanten internationalen Bestseller“ (JF 49/13).

Foto: Bestsellerautor Forsyth: „Nigel Farage ist kein Dummkopf, aber er appelliert an Millionen solcher. Er weiß ganz genau, daß er seine Versprechen unmöglich wird halten können.“


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