© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/15 / 24. April 2015

Noch lange nicht saturiert
Ästhetik des Nationalismus: Polens Suche nach den Wurzeln seines Volkskörpers in der Zwischenkriegszeit
Gustav Schwarzbach

Gerade fünf Jahre ist es her, daß der damalige polnische Staatspräsident Lech Kaczy´nski und mit ihm eine Reihe weiterer hoher polnischer Politiker und Militärs bei einem Flugzeugabsturz nahe der westrussischen Stadt Smolensk ums Leben kamen (JF 17/15). Die in der polnischen Öffentlichkeit unmittelbar danach einsetzende nationale Erregung, gekrönt von allerlei Verschwörungstheorien zu den Ursachen des Unglücks, markierte den Höhepunkt einer mächtigen Renaissance des polnischen Nationalismus nach der Jahrtausendwende.

Kaczy´nskis Zwillingsbruder Jaroslaw hatte in seiner von Juli 2006 bis November 2007 währenden Amtszeit als Ministerpräsident kaum eine Gelegenheit ausgelassen, die dicht unter der Oberfläche des polnischen Gefühlshaushalts schlummernden antideutschen Ressentiments wieder zum Leben zu erwecken und politisch auszuschlachten. Die von den Kaczy´nski-Zwillingen und ihrem publizistischen Umfeld bemühten Stereotype sind freilich ohne Kenntnis der Besonderheiten der polnischen Geschichte kaum zu verstehen – und hierzu muß man weit vor den Zweiten Weltkrieg zurückblicken.

Die vollständige Aufteilung der alten polnischen Adelsrepublik durch die Nachbarmächte Rußland, Österreich und Preußen am Ende des 18. Jahrhunderts hatte eine gut 120 Jahre währende Phase gleich dreifacher Fremdherrschaft eingeleitet. Ein über die Teilungsgrenzen hinweg integrierend wirkendes polnisches Nationalgefühl mußte sich unter diesen Umständen notgedrungen gegen den Staat und seine Institutionen ausbilden und behaupten. Mehr als anderswo in Europa wurden Literatur und Kunst somit zu Medien, die das Fortbestehen einer nationalen Identität unter den Polen im 19. Jahrhundert überhaupt erst ermöglichten.

Erst der militärisch-politische Zusammenbruch gleich aller drei Teilungsmächte am Ende des Ersten Weltkriegs ermöglichte die Wiedererrichtung der polnischen Republik. Doch während in der deutschen Öffentlichkeit die im Versailler Vertrag verfügten umfangreichen Gebietsabtretungen zugunsten des neuen Staates ein folgenschweres Trauma auslösten, herrschte in Polen umgekehrt das Gefühl vor, bei der Grenzziehung angesichts viel weitreichenderer Forderungen auf Kosten des Deutschen Reichs benachteiligt worden zu sein.

Die Nation zu einem

„Gesamtkunstwerk“ stilisiert

Das ohnehin omnipräsente Feindbild Preußen-Deutschland wurde dadurch noch zusätzlich politisch aufgeladen. Es liegt ein gewisses Paradoxon darin, daß die nationalistische Rechte in Zwischenkriegspolen zwar nie die Regierung stellte – während der ursprünglich aus dem sozialistischen Lager stammende Kriegsheld Józef Pilsudski bzw. dessen Epigonen das Land seit dem Putsch von 1926 ihrer autoritären Herrschaft unterwarfen –, daß sie den öffentlichen Diskurs gleichwohl in erheblichem Maße zu prägen verstand. Zumindest der radikale Flügel des rechtsnationalen Lagers entdeckte dabei den italienischen Faschismus als Vorbild.

Im Einklang mit dem Ansatz der neueren Kulturwissenschaft, den Nationalismus nicht länger nur unter ideologischen oder sozialgeschichtlichen Prämissen zu untersuchen, sondern auch seine Symbolik und seine ästhetische Inszenierung in den Blick zu nehmen, hat der St. Gallener Slawist und Literaturkritiker Ulrich Schmid nunmehr einen umfangreichen Sammelband zum polnischen Nationalismus zwischen 1926 und 1939 vorgelegt. Das Werk ist zugleich als Versuch zu werten, einen interdisziplinären Bogen zwischen Literatur- und Geschichtswissenschaft zu schlagen.

In den insgesamt sechzehn Beiträgen, von denen Schmid als Herausgeber mehrere selbst verfaßt hat, werden die verschiedenen ästhetischen Ausprägungen des nationalistischen Diskurses im Polen der Zwischenkriegszeit analysiert: Prosa und Dichtung, bildende Kunst und Architektur. Gerade angesichts der äußeren Herausforderungen, so der Herausgeber, habe der polnische Nationalismus nach Ausdrucksformen gesucht, die eine auch ästhetische Unabhängigkeit demonstrieren sollten, und die Nation somit gleichsam zu einem „Gesamtkunstwerk“ stilisiert.

Dabei unterscheidet Schmid in eine zeitliche, eine räumliche, eine körperliche und eine gesellschaftliche Dimension: Erstens folgte die Zeitkonzeption der nationalistischen Ästhetik in Polen einem mythischen Muster, dem zufolge Geschichte im wesentlichen als (von „Sündenfällen“ unterbrochene) Heilsgeschichte aufgefaßt wurde. Zweitens wurde das anzustrebende nationale Territorium als quasi lebendiger Organismus definiert, der nur als Ganzes funktionieren könne. Drittens wurde der polnische Gemeinschaftsdiskurs der Zwischenkriegszeit vom Bild der Nation als eines organisch gewachsenen, kollektiven „Volkskörpers“ geprägt, während viertens die Grundopposition „Wir“ – „sie“ das nationalistische Gesellschaftsverständnis beherrschte.

Weitere Beiträge thematisieren das durchaus nicht konfliktfreie Verhältnis zwischen dem nationalistischen Lager und der in Polen dominierenden katholischen Kirche – etwa den Versuch, die Arbeit für die Nation als den aussichtsreichsten „Weg zu Gott“ anzupreisen –, das Frauenbild des polnischen Nationalismus oder auch verschiedene Konzepte zur „Lösung der jüdischen Frage“. So erfährt man, daß auch auf der polnischen Rechten die Möglichkeit einer Zwangsumsiedlung der Juden nach Madagaskar ernsthaft diskutiert wurde. Unter dem Rubrum „Kunst als nationales Projekt“ schließlich skizzieren vier polnische Autoren konkrete Fallbeispiele aus Malerei, Bildhauerei und Architektur.

Ein umfangreiches Schriftenverzeichnis sowie eine Sammlung von Biogrammen der wichtigsten Protagonisten des polnischen Nationalismus in der Zwischenkriegszeit runden den Band ab. Für den vielversprechenden Ansatz, die ästhetische Dimension nationaler Ideologie herauszuarbeiten, gilt freilich, was für die historische Nationalismusforschung insgesamt gilt: Sie bezieht ihren Erkenntniswert ganz wesentlich aus dem Vergleich. Insofern darf man auf entsprechende Untersuchungen zu anderen Nationalismen – etwa dem französischen, dem italienischen und nicht zuletzt natürlich dem deutschen – schon jetzt gespannt sein.

Ulrich Schmid (Hrsg.): Schwert, Kreuz und Adler. Die Ästhetik des nationalistischen Diskurses in Polen (1926–1939). Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 2014, gebunden, 584 Seiten, 48 Euro