© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/15 / 24. April 2015

Atatürks Triumph und Churchills Blamage
Die Schlacht um Gallipoli 1915, Teil 2: Dem mißglückten Dardanellen-Durchstoß folgte für die Entente das Fiasko der Landung
Matthias Schneider

Nachdem der Durchbruchsversuch vom 18. März 1915 gescheitert war (JF 9/15), wurde zur Eroberung der Dardanellen in den alliierten Stäben der Plan für die bis dahin größte amphibische Operation der Kriegsgeschichte ausgearbeitet. War die Landung mit Unterstützung der Flotte geglückt, glaubte man schnell nach Konstantinopel vorrücken zu können, da man den Türken nach den Erfahrungen der Balkankriege militärisch wenig zutraute.

Unter Verletzung der griechischen Neutralität versammelte sich die britisch-französische Streitmacht auf den vorgelagerten Inseln der Ägäis und verwandelte diese in gigantische Heer- und Nachschublager. Für die Vorbereitung standen General Hamilton, dem Oberkommandierenden gerade sechs Wochen zur Verfügung, während deren die Gegenseite, gewarnt durch die auffälligen Truppenbewegungen, nicht untätig blieb. Der türkische Kriegsminister Enver Pascha unterstellte die neugebildete 5. Armee zum Schutze der Meerengen General Liman von Sanders, dem bisherigen Leiter der deutschen Militärmission.

Von Sanders ging sofort daran, auf Gallipoli die Verteidigungsanlagen und Verbindungswege auszubauen und änderte grundsätzlich die Truppenaufstellung, indem er seine Divisionen für alle Eventualitäten auf der Halbinsel selbst und der asiatischen Küste verteilte. Flankiert von zwei Scheinangriffen, die im Golf von Saros und an der asiatischen Festlandküste feindliche Kräfte binden sollten, fanden die entscheidenden Landungen an sechs Plätzen in der Südhälfte der Halbinsel Gallipoli statt. Zuerst landete im Morgengrauen des 25. April das Australian and New Zealand Army Corps (Anzac) an der Westküste der Halbinsel. Auf Artillerieunterstützung wurde verzichtet, um das Überraschungsmoment nicht zu gefährden. Durch nie gänzlich geklärte Ursachen verfehlte man die Landungszone um zwei Kilometer und fand sich an einer zerklüfteten Steilküste mit dichtem Buschwerk wieder, wo im Verlauf des Angriffs der Zusammenhalt der Truppe verlorenging.

Die wachsamen, zahlenmäßig weit unterlegenen Türken beschossen die Landungsboote aus überhöhter Position und fügten den Angreifern empfindliche Verluste zu. In dieser kritischen Situation trat ein Mann in den Lauf der Geschichte, der als Atatürk die Zukunft der Türkei noch entscheidend beeinflussen sollte. Mustafa Kemal, damals Kommandeur der 19. Division, kann die wankende Abwehrfront halten, bis Reserven eintreffen.

An der Südspitze der Halbinsel gelingt die Landung trotz massiver Unterstützung durch die Schiffsartillerie nur unter schwersten Verlusten. Wie an der Westfront blieben die Kampfhandlungen bald überall im Stellungskrieg stecken, bis Ende Juli erreichte man an der Südfront nach mehreren Großkampftagen mit enormen Verlusten für beide Seiten nur einen Geländegewinn von sieben Kilometern. Im zwanzig Kilometer entfernten, ebenso heiß umkämpften Anzac-Brückenkopf waren die Lebensumstände aufgrund der räumlichen Enge verheerend. Die überfüllte Uferzone war ständig unter Beschuß und katastrophale sanitäre Bedingungen verursachten horrende Ausfälle. Rückschläge an allen Fronten, einhergehend mit Nachschubproblemen führten in England zum „Munitionsskandal“, der Mitte Mai nach einer von der Times angeführten Pressekampagne in einer Regierungskrise gipfelte. Bei der folgenden Kabinettsumbildung wurden Sündenböcke gesucht und Winston Churchill, einer der stärksten Befürworter des Dardanellenfeldzuges, mußte seinen Posten als erster Lord der Admiralität räumen.

Anzac wurde zum Mythos in Australien und Neuseeland

Die festgefahrene Gesamtlage führte zu Plänen für eine neue Großoffensive, mit dem strategischen Ziel der beherrschenden Höhen des Sari-Bair-Massivs im Zentrum der Halbinsel. Die südliche Angriffsbewegung aus dem Anzac-Brückenkopf heraus galt der Eroberung der Gipfel Chunuk Bair und Kodja Djemen, gleichzeitig sollten die nördlichen Höhenzüge von Truppen gestürmt werden, die in der Suvla-Bucht angelandet waren. Doch es gelang den Angreifern nicht, in der vom 6. bis zum 9. August dauernden Schlacht das Überraschungsmoment für einen schnellen und entscheidenden Vorstoß auszunutzen. Wie schon im April waren fehlerhafte Karten, unklare Befehlsverhältnisse, mangelhafte Stabsarbeit, dilettantische Truppenführung und ein völlig desorganisierter Wassernachschub ursächlich für das Scheitern der Operation.

Im Herbst änderte sich die militärische Großwetterlage entscheidend zu ihren Ungunsten, denn Bulgarien war auf seiten der Mittelmächte in den Krieg eingetreten, und nachdem Serbien Ende November besetzt war, stand eine durchgehende Eisenbahnlinie über den Balkan zur Versorgung des türkischen Bundesgenossen zur Verfügung. In London schwankte indessen das Dardanellen-Komitee in seiner Entscheidung, ob ein Rückzug machbar und für das Prestige des Empire überhaupt tragbar war. Nachdem der britische Kriegsminister Lord Herbert Kitchener persönlich den Kriegsschauplatz besucht hatte, ergingen im Dezember die Befehle, den Rückzug vorzubereiten. Dabei vollbrachten die Alliierten ein Meisterstück, denn dank minutiöser Planung und trickreicher Verschleierung gelang die Evakuierung ohne größere Menschenverluste. Am 9. Januar 1916 war Gallipoli feindfrei.

Zu Recht wird dieser Abwehrsieg vorrangig als türkische Waffentat gewertet, war es doch einer der wenigen großen militärischen Erfolge, den das Osmanische Reich im Ersten Weltkrieg für sich verbuchen konnte. Mit Gesamtverlusten von 220.000 Mann war es jedoch für die Türkei ein Pyrrhussieg.

Hierzulande steht das Ringen um die Meerengen in seiner Bekanntheit weit zurück, zum einen überschattet von den Materialschlachten der Westfront und weil die personelle Beteiligung Deutschlands mit etwa 3.000 Mann zwar effektiv, aber zahlenmäßig relativ gering war. Für das britische Empire war diese Niederlage eine Blamage, und schon 1916 wurde eine königliche Kommission einberufen, um Fehler und Verantwortlichkeiten zu untersuchen. Nicht nur wegen der hochgesteckten strategischen Ziele und der Tragik des wiederholten Scheiterns stellen die Dardanellenkämpfe ein besonderes Kapitel des Ersten Weltkrieges dar, sondern sie sind Ausdruck dieses globalen Konfliktes schlechthin, denn tatsächlich fand an der Grenze zwischen Eu-ropa und Orient eine Vielvölkerschlacht statt, wo neben den Hauptbeteiligten auch mannigfaltige Hilfstruppen aus den französischen und britischen Kolonien fochten, ebenso wie Freiwillige aus Australien und Neuseeland.

Letztere hatten 1907 mit dem Status als Dominion größere staatliche Selbständigkeit erhalten, und somit wurde dieser Feldzug für das Australian and New Zealand Army Corps gleichbedeutend mit der Feuertaufe der Nation. „Anzac“ wurde zum Mythos, die Landungszone Anzac-Cove ist heilige Erde. Der 25. April, seit 1927 Nationalfeiertag, wird nicht nur in der Heimat begangen, sondern zum Anzac-Day reisen alljährlich die Nachfahren der Weltkriegskämpfer in Scharen um den halben Erdball, um vor Ort zu gedenken.

Foto: Australische Truppen gehen auf Gallipoli gedeckt gegen einen türkischen Graben vor: Unklare Befehlsverhältnisse, mangelhafte Stabsarbeit, dilettantische Truppenführung bei den Truppen der Entente