© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/15 / 24. April 2015

Pankraz,
Himmel/Hölle und die arme Theorie

Kulturhistoriker wie Philipp Felscher, Claus Pias oder Ulrich Raulff schwärmen zur Zeit von den so gloriosen siebziger und achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, den „Jahrzehnten der Theorie“, wie sie sagen. Es sei, so der Titel des neuen Buches von Felscher, „Der lange Sommer der Theorie“ gewesen, der Sommer der Frankfurter Schule, des Poststrukturalismus und der Systemtheorie, der Edition Suhrkamp und des Merve-Verlags, der Habermas, Foucault und Agamben. Vorbei und schon halb vergessen! Man könnte melancholisch darüber werden.

Pankraz freilich kann die Melancholie nicht teilen. Was heißt denn „langer“ Sommer? Jahreszeiten sind klimatologisch eindeutig begrenzt, und wenn sie ihr Maß einmal überschreiten, führt das in der Regel zu bösen Häusern, bringt das ganze Leben durcheinander. Außerdem gibt es schöne oder weniger schöne, überhitzte beziehungsweise verregnete Sommer, und auch das kann viel Unheil anrichten, überhöhte Preise, Lebensmittelknappheit, Hungersnöte gar; man denke an das historische Jahr der Vulkanausbrüche 1816 mit seinen grausam verheerten Landschaften und den Millionen von Toten.

Was den von Felscher & Co. nostalgisch angepeilten langen Sommer der Theorie in den siebziger und achtziger Jahren angeht, so war auch er eine Katastrophe, und zwar in erster Linie für die Theorie selbst. Ganze Armeen von Junggelehrten, geisteswissenschaftlichen und sogar naturwissenschaftlichen Studenten verstrickten sich damals in die Mantras und Konklusionen sogenannter kritischer Theorien, welche buchstäblich nichts mit der Wirklichkeit zu tun hatten, statt praktischer Handlunganleitung nur Spinnerei ablieferten und den Ruf der Wissenschaft insgesamt auf Dauer schwer beschädigten.

Es wiederholte sich ein Spiel, das in Europa vor 2.500 Jahren, am Anfang des speziell wissenschaftlichen Denkens im klassischen Athen, schon einmal gespielt worden war, wenn auch mit konträr anderem Ausgang. Es herrschte damals ein allgemeiner Überdruß an überkommenen Zuständen, fast Verachtung. Heraklit und Epikur wandten sich damals voller Ekel von der sozialen und politischen Praxis der herrschenden Königreiche und Stadtbürgerschaften ab und zogen sich in ihre Eremitage zurück, um dort mit Hilfe der „theoria“, des „Blicks auf das Wesentliche“, das „wahre Sein“ freizulegen.

Der große Platon seinerseits versuchte, der alltäglichen Kommunikationspraxis der Bürger seine direkt aus der „theoria“ abgeleiteten „idealen“ Verhaltensmodelle mit Hilfe der Politik gewaltsam überzustülpen – und scheiterte spektakulär, wurde gefangengesetzt und auf dem Sklavenmarkt verkauft. Aber sein Schüler Aristoteles erkannte daraufhin als erster, daß eine im großen und ganzen einigermaßen funktionierende, gleichsam spontan ausgeübte Lebenspraxis zum guten Teil selber Theorie ist, eine Übertheorie, in der sich Vita activa und Vita contemplativa, Handeln und „Schauen“, immer wieder spannungsreich zusammenfinden.

Eine derart „nach Maß“ und somit letztlich ziemlich liberal organisierte Gesellschaft (Aristoteles sagte „polis“) war für ihn die allerhöchste existentielle Kategorie. Nicht frei schwebende Ideen und nicht künstlich optimierte „Glückszustände“ à la Epikur für bestimmte einzelne bestimmen demnach den Rang einer Polis, sondern deren allgemeines Eingedenken und der Einsatz für ihren Fortbestand. Die Welt, so interpretierte in unseren Tagen der Philosoph Odo Marquard Aristoteles, „ist für ihn weder Paradies noch Inferno, sondern geschichtliche Wirklichkeit. Sie ist nicht der Himmel auf Erden und nicht die Hölle auf Erden, sondern die Erde auf Erden.“

Man übertreibt gewiß nicht, wenn man diagnostiziert, daß der lange Sommer der Theorie in den Siebzigern und Achtzigern frontal und mit ungenierter Wucht gegen diese aristotelische Weltsicht angegangen ist. Theorie verwandelte sich in Utopie,Wissen in (Un-)Glauben. Statt mit kühlen Empirikern wurden die Lehrstühle und Mediencomputer mit eifernden Ideologen beziehungsweise politisch korrekten Aufpassern auf die Einhaltung der jeweils reinen Lehre besetzt.

An sich könnte man nun sagen: „Was soll’s? Geschieht den sommerlichen Quasi-Theoretikern doch recht. Sie sitzen jetzt bis auf die Knochen blamiert in ihren Chefsesseln, und niemand will noch etwas von ihnen hören.“ Doch leider ist dem nicht ganz so. Zwar ist das Ansehen von Theorien und theoretisierenden Zirkeln tatsächlich rapide gesunken, man will von der Wissenschaft nur noch Fakten geliefert bekommen, nichts als Fakten. Aber gerade diese Faktenhuberei und forcierte Theorieverachtung hat die fatalsten Folgen.

Wissenschaftler, wenn sie heute erfolgreich sein und an Drittmittel herankommen wollen, liefern nur noch „Studien“ ab. Irgendeine Firma oder Behörde tritt an ein Institut heran, es soll – zwecks Umsatzförderung oder Wählergewinnung – eine bestimmte Menge von Leuten befragen, was sie zu diesem und jenem denken. Die Befragung geschieht, es gibt ein Medienecho, Geld wird überwiesen. Mit Theorie hätte der Vorgang nicht einmal zu tun, wenn man dafür den allerknappsten Lexikoneintrag (den von Wikipedia) heranzöge: „Theorie ist ein System von Aussagen, das dazu dient, Ausschnitte der Realität zu beschreiben und Prognosen über die Zukunft zu erstellen.“

Nicht die geringste Spur mehr von dem, was Aristoteles einst als den Kernpunkt guter Theorie herausstellte, die innige Vereinigung von Vita activa und Vita contemplativa, das leidenschaftliche, an genauester Empirie orientierte Nachdenken und Reden über das, was ist, verbunden mit dem, was nur erschaut werden kann, den Tanz des Absoluten, Himmel und Hölle, deren semantische Vergegenwärtigung nur einen einzigen Fingerzeig zu geben vermag.

Nämlich die Einsicht, daß hier auf Eden weder das eine noch das andere von irdischem Karat ist und wir in jeder Hinsicht maßvoll mit ihnen umgehen müssen. Das wäre eine schöne Lehre aus einem schönen Sommer der Theorie.