© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/15 / 24. April 2015

Nicht fit für die Liebe
Sexuelle Aufklärung: Irritierte Jugendliche und schwindende Bindungsfähigkeit – die Kritik an der experimentierfreudigen Pädagogik von Organisationen wie Pro Familia nimmt zu
Matin Voigt

Männer wollen immer die erste Liebe im Leben einer Frau sein, Frauen sind gerne der letzte Roman eines Mannes.“ Oscar Wilde brachte auf den Punkt, was hundert Jahre nach seinem Tod empirisch untersucht wird, etwa von Jay Teachman, Soziologieprofessor in Washington. Seine These: Frauen, die ihre ersten Erfahrungen sexueller Intimität mit demjenigen machen, der ihr Ehepartner ist oder sein wird, sind einem geringeren Risiko des Scheiterns ihrer Ehe ausgesetzt als Frauen, die vorher Sex mit anderen Partnern hatten.

Zahlreiche Studien kommen zum selben Ergebnis: „Männer und Frauen, die nur mit ihrem Ehepartner Sex hatten, haben ein geringeres Scheidungsrisiko als jene, die mit verschiedenen Partnern Sex hatten“, heißt es in einer Untersuchung von 2011. Ehemalige Beziehungen scheinen sich demnach negativ auf die Stabilität einer Ehe auszuwirken, oder anders formuliert, wenn erste Liebe und letzter Roman zusammenfallen, ist die Chance auf eine glückliche Ehe besonders groß.

Junge Frauen leiden primär unter Partnerwechseln

Die moderne Sexualpädagogik setzt andere Schwerpunkte: Pro Familia ist der führende Verband zu den Themen Sexualität und Partnerschaft in Deutschland. Er möchte eine Haltung fördern, in der Sexualität als Lebensbereich angesehen wird, „der auf vielfältige Weise gestaltet werden kann“, sagte die Bundesvorsitzende Professor Daphne Hahn auf der „Fachtagung Sexuelle Kulturen – Sexuelle Bildung in Institutionen“ 2013 in München. Den ersten Vortrag hielt der Gründer des Instituts für Sexualpädagogik in Dortmund, Uwe Sielert. „Mit allen kreativen didaktischen Mitteln in Liebeskunst einführen“ steht auf einer Folie zur sexuellen Bildung in pädagogischen Einrichtungen.

Die „sexualfreundliche“ Aufklärung von Pro Familia baut gezielt Hemmungen ab. Broschüren für Teenager betonen, wie normal es ist, „längere Zeit mit beiden Geschlechtern“ zu experimentieren, und erklären „viele verschiedene Sex-Praktiken, Stellungen und Varianten“. Beim Oralverkehr kann man sich gegenseitig durch „Lecken, sanftes Knabbern und Saugen“ sogar „bis zum Orgasmus erregen“, und „mit viel Gleitgel und etwas Erfahrung in Sachen Sex“ gelingt Analverkehr am besten. „Zum Glück dürfen Mädchen und Jungen heute sagen, wenn sie puren Sex – eben ohne Romantik – wollen.“ Die Kernbotschaft lautet: „Erlaubt ist, was beiden gefällt“, und „öfter mal Neues ausprobieren kann eine gute Idee sein“.

Wie ist das, wenn auf die erste Liebe eine zweite und dritte Liebe folgt und die neue Liebe endlich die große Liebe sein soll? Pro Familia meint zu Liebeskummer: „Wenn du dich das nächste Mal verliebst, geht es dir wieder super!“ Ist eine neue Liebe wie ein neues Leben?

Auf Facebook kann man alte Fotos löschen als symbolischer Akt für den Versuch, einen Schlußstrich zu ziehen. So richtig klappt das nicht. Nach dem Aus einer intimen Beziehung bleibt eine exklusive emotionale Verbundenheit zu dieser vertrauten Person. Gemeinsame Erinnerungen und Erlebnisse kommen immer wieder an die Oberfläche, auch im Alltag der neuen Beziehung. Die körperlich-seelische Verschmelzung in einer Liebesbeziehung bindet zwei Menschen aneinander. Das macht sie verletzlich. Wer in einer neuen Beziehung sexuelle Routinen seines Partners erlebt, findet sich nackt in einer Reihe mit seinen Vorgängern wieder.

Das sexuelle Gedächtnis ist tief im Unterbewußten verankert und somit wird die Intimität der vorangegangenen Beziehung zum Sezierstück der aktuellen. „Als wäre ich auch mit den Schatten meiner Vorgänger im Bett“, lauten Sätze, die in Therapiesitzungen fallen.

Es ist die Würde und Exklusivität des Unberührten, die den Zauber der ersten Liebe ausmacht. In allen weiteren Beziehungen möchte man dieses Gefühl neu entfachen, das jedoch an die ersten zärtlichen Sinneserfahrungen mit einem bestimmten Menschen geknüpft bleibt. Die erste Liebe klingt im weiteren psychosexuellen Erleben immer mit an.

„Die Bindungsfähigkeit wird schwächer, je mehr sexuelle Beziehungen eingegangen und wieder gelöst werden“, sagt die Psychotherapeutin Tabea Freitag. Sie warnt davor, Teenager, deren Persönlichkeitsentwicklung voll im Gange ist, noch extra zu ermutigen, vielfältige sexuelle Erfahrungen zu machen. Tatsächlich sind laut Online-Beratung „sexundso“ von Pro Familia Niedersachsen drei Viertel aller Ratsuchenden Mädchen und junge Frauen. Ihre Beziehungen halten nicht, oder ihre Schwangerschaft paßt nicht mehr zum aktuellen Beziehungsstatus.

Jugendliche wünschen sich laut der Shell-Jugendstudie eine verläßliche, dauerhafte Beziehung mit einer „richtigen“ Familie. Mädchen haben diesen Wunsch früher als Jungen und äußern ihn auch konkreter. Bei ihrer Suche nach der großen Liebe legen sie das in die Waagschale, was sie als ihr Kapital kennengelernt haben: ihr Aussehen, dem sie größte Aufmerksamkeit widmen. Ihre weiblichen Reize treffen auf Jungen, deren sexuelles Belohnungssystem voll ausgeprägt ist, die aber in ihrem psychosozialen Reifestadium die Konsequenz, den anderen Menschen voll anzunehmen, noch nicht überblicken können. Sie planen noch kaum über die eigene Befriedigung hinaus.

Tabea Freitag, die ein Fachbuch für eine bindungsorientierte Sexualpädagogik („Fit for Love?“) verfaßt hat, wird mit diesen Problemen in der Präventionsarbeit konfrontiert: „Mädchen wünschen sich eine feste Beziehung. Darum schlafen viele direkt am Anfang mit dem Jungen in der Hoffnung, daß er dann bleibt. Aber feste Beziehungen dauern unter Jugendlichen im Durchschnitt nur drei Monate.“ Freitag sieht in den jungen Frauen die Hauptleidtragenden dieser Tendenz zum häufigen Partnerwechsel. Sie sind diejenigen, die sich in der Intimität verletzbarer machen. Zugleich wissen sie um die Pornostandards von makellosen Körpern und permanenter Verfügbarkeit in den Vorstellungen ihrer Partner. „In der Therapie erlebe ich Frauen, die durch den Vergleich mit Ex-Freundinnen und dem Erotik-Ideal so verunsichert sind, daß sie Angst haben, nach der Schwangerschaft diesen Normen nicht mehr zu entsprechen.“ Die Liebe der Frau mache es ihr besonders schwer, sich von einem Mann bewußt zu lösen, den sie im Vertrauen hineingelassen und in ihr Herz geschlossen hat. Eine Trennung ist kein klarer Schnitt. „Beide lassen etwas von sich beim anderen, das sie vermissen und wieder suchen“, sagt Freitag. Die Angst, erneut enttäuscht zu werden, aber auch das Verlangen nach Wiedergutmachung und nach der gewohnten Nähe beeinflussen die folgende Partnerwahl.

Vorgeschichte des Partners muß bewältigt werden

Erreicht die neue Beziehung emotionale Tiefe, hadern Männer öfter mit der Tatsache, daß sie sich schon anderen hingegeben hat, während Frauen längst die Gegenwart gestalten und in die Zukunft planen. Wenn sie fühlen, daß sie bei ihrem Partner verläßlich angenommen und geborgen sind, hinterfragen sie ihre und seine Vergangenheit nicht so sehr wie Männer. In der Tendenz hat Oscar Wilde recht gehabt, meint Christian Spaemann, Facharzt für Psychiatrie: „Treue gehört zu den Dingen, die dem Mann bei seiner Partnerin am wichtigsten sind. Das hat einen evolutionsbiologischen Hintergrund, weil sich der Mann im Vergleich zur Frau nicht sicher sein kann, ob das Kind auch seines ist.“

An Kinder denkt Mario, der für diesen Artikel interviewt wurde, noch nicht. Er ist 23 und muß bei dem Zitat von Oscar Wilde und der Frage nach eifersüchtigen Gefühlen grinsen. „Ich bin da eher tolerant“, sagt er. Mit „da“ meint er die Ex-Beziehungen seiner neuen, insgesamt dritten Freundin. „Das ist heute so. Die Leute sind aufgeklärter und offener.“ Er kennt in seinem Alter niemanden, der nur eine Beziehung hatte. Richtig begeistert wirkt sein Lachen nicht, eher wie ein „Das ist nun mal so“.

Nach zwei Wochen meldet sich Mario noch einmal und fragt, ob der Artikel schon fertig ist. Es soll noch etwas dazu: „Eigentlich hasse ich dieses Bett, in dem die anderen mit ihr gevögelt haben. Wir liegen da drauf, wo …“ Er bricht ab.

Marios Beziehung ist ein Jahr alt – doch die vergangenheitsbezogene Eifersucht entpuppt sich als Enttäuschung. „Diese Reaktion ist eher typisch für Männer, doch das eigentliche Problem sind die Beziehungsbrüche, durch die beide gegangen sind“, sagt Spaemann. Ein Grund hierfür sei der sexuelle Kontakt gleich zu Beginn einer Beziehung. „Die plötzlich vermittelte Intensität führt zu heillosen Verstrickungen und Ambivalenzen, so daß sich die Betreffenden oft mit sich selber nicht mehr auskennen.“

Man werde sich selbst und dem anderen aber nur gerecht, wenn bereits in der Anbahnung einer Beziehung die anthropologische Tatsache berücksichtigt wird, daß Vergangenheit und Zukunft konstitutiv für den Menschen sind. Wer daran zweifele, ob er jemanden zukünftig noch lieben wird, zweifelt schon. Das ehrliche Ja zu einem anderen Menschen ist mehr als Lust auf das Gegenüber oder eine egozentrische Sehnsucht nach Nähe. „Sexualität stellt eine komplexe Integrationsleistung für den einzelnen dar“, erklärt Spaemann. „Eine humane Sexualpädagogik“ müsse Jugendlichen helfen, sich „gegen eine Konsumhaltung in Sachen Sex zu entscheiden“.

Der Wille, auch die Vergangenheit des anderen mitzutragen, führt zum Vertrauen in eine gemeinsame Zukunft. Man nimmt mit seinem Partner auch seine Vorgeschichte an, also ein Stück weit auch die Schatten jener Menschen, die mit ihm intim waren. Das ist für die Ehe nicht nur eine Herausforderung, sondern auch eine signifikante Bruchlinie, wie die Scheidungsforschung zeigt.

Eifersucht und mangelndes Vertrauen bedingen einander. Wer das Kosewort „Schatz“ beibehält, aber den Partner wechselt, wird unglaubwürdig. Wie oft kann man zu unterschiedlichen Menschen ganz ja sagen und es jedesmal ernst meinen? Hinter dem Wunsch nach Exklusivität steht die Ahnung, daß hingebungsvolle Liebe kaum wechselnde Adressaten verträgt.

Im Gegensatz zu seinem emotionalen Sehnen nach der reinen Liebe einer Frau liegt aber auch das Streben nach der koitalen Endlust in erotischen Erlebnissen mit vielen attraktiven Frauen im Naturell des Mannes. In der Zeitschrift Sexuologie (2014, 3/4) bietet Professor Ferdinand Fellmann eine anthropologische These an, warum der Mann emotional bei einer Frau gehalten werden kann: „Es bedurfte neben der volatilen Lust eine gegenläufige emotionale Komponente der Sexualität.“ Diese Komponente sieht Fellmann im Bedürfnis des Mannes nach Geborgenheit, das aus dem Mutter-Kind-Verhältnis resultiert. „Auch der stärkste Jäger ist Kind einer Mutter.“

Neben der archaischen Eifersucht auf Konkurrenten liegt hier eventuell die Ursache, warum beim Mann die Enttäuschung existentieller ausfällt, wenn seine Frau schon Beziehungen hatte. Er sucht mehr noch als das erotische Optimum die Neuauflage einer sicheren, emotional exklusiven Bindung. Bei seiner Frau wird der Jäger nicht nur zum fürsorglichen Beschützer, sondern auch zum Kind, das ihre vollständige Liebe fordert. Ex-Partner, die auch geliebt wurden, passen nicht ins Bild. Die liebevolle Zuwendung seiner Frau offenbart ihm, wie sehr auch seine Vorgänger sexuell umsorgt wurden und welche Verletzung das Ende der Beziehung in der sich hingebenden Frau verursacht haben muß. Die unterbewußte Konfrontation mit ihren Erfahrungen wird zur Dauerenttäuschung für das Kind im Mann. Seine erwachsene Entscheidung zur Liebe ist ein Versuch, die Vergangenheit zu akzeptieren. Aber auf emotionaler Ebene kann er weder die Schatten der Ex-Partner annehmen noch die Wunden heilen, die sie in seiner Frau hinterlassen haben. Geschweige denn kann er aushalten, daß die Kränkungen, die seine Vorgänger ausgelöst haben, nun zu ihm durchschlagen.

„Wie man seine Eltern erlebt, beeinflußt einen das ganze Leben. Mit zwei bis drei Jahren hat sich schon das Beziehungsweltbild gebildet“, sagt Spae-mann, der sich für neue Prinzipien in der Sexualpädagogik einsetzt. „Diese muß den Sehnsüchten nach menschlicher Geborgenheit und Sicherheit entsprechen und die psychische Dimension sexueller Intimität diskutieren.“ Die hedonistische Pädagogik von Pro Familia programmiere hingegen sehenden Auges Verletzungen.

Pro Familia

Pro Familia ist ein gemeinnütziger Verein, der mit Mitteln des Bundes, der Länder und Kommunen öffentlich gefördert wird. Der Verein wurde im Jahr 1952 gegründet. Er definiert sich als Vorkämpfer einer sexuellen Kultur, in der die „Irrationalität von Sexualität anerkannt und auch als kulturelle Bereicherung“ gesehen wird und in der „sexuelle Selbstbestimmung und damit auch Bestimmung über die eigene Fruchtbarkeit als wesentliches Merkmal sozialer Kompetenz“ gelten. Vor diesem Hintergrund bieten 180 Beratungsstellen Sexual-, Schwangerschafts- und Paarberatung an. Nach eigenen Angaben wird diese jährlich von mehr als 200.000 Menschen in Anspruch genommen. Um die 250.000 Kinder und Jugendliche werden pro Jahr von den Pro-Familia-Sexualpädagogen „vor allem in Schulen“ beraten.

http://www.profamilia.de

Foto: Je mehr Partner, desto größer die Probleme in der aktuellen Beziehung: Wer das Kosewort „Schatz“ beibehält, aber den Partner wechselt, wird unglaubwürdig