© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/15 / 24. April 2015

Die deutsche Angst vor dem V-Wort
Geschichtspolitik: Bundestag setzt die Bezeichnung Völkermord für die Pogrome gegen die Armenier durch
Martin Schmidt

Am Ende war der Druck zu stark. Lange hatte sich die Bundesregierung aus Rücksicht gegenüber der Türkei gesträubt, die Massentötungen und -vertreibungen von Armeniern im Osmanischen Reich als Völkermord zu bezeichnen. Doch diese Haltung stieß im Bundestag auf Widerstand. Am Montag dann die Kehrtwende: Regierungssprecher Steffen Seibert teilte mit, die Bundesregierung stehe hinter dem Entwurf eines entsprechenden Antrags der Koalitionsfraktionen, in dem das Schicksal der Armenier im Ersten Weltkrieg als beispielhaft für die Geschichte der Massenvernichtungen und Völkermorde im 20. Jahrhundert bezeichnet werde. An diesem Freitag, dem hundertsten Jahrestag des Beginns der Massenmorde der Türken an den Armeniern, stimmt der Bundestag über den Entschließungsantrag ab.

Auf Betreiben der jungtürkischen Bewegung war 1915 mitten im Ersten Weltkrieg zunächst die in Istanbul/Konstantinopel beheimatete armenische Elite verhaftet, verschleppt und größtenteils ermordet worden. Bis 1917 kam es zu zahlreichen weiteren Deportationen und Massakern. Armenien spricht von rund anderthalb Millionen Toten, während die Türkei deutlich niedrigere Zahlen ins geschichtspolitische Feld führt. Dort ist von wenigen hunderttausend Toten die Rede, deren Schicksal vor allem kriegsbedingt gewesen sei und keinesfalls als Völkermord angesehen werden könne. Doch daß es sich damals gemäß internationalem Recht um einen solchen Genozid gehandelt hat, steht außer Frage.

Diese Haltung ist auch in der deutschen Politik und Medienlandschaft mittlerweile nahezu unbestritten. Nachdem Papst Franziskus Anfang April vom ersten Völkermord des zwanzigsten Jahrhunderts gesprochen hatte, kam eine öffentliche Debatte in Gang, die wenige Tage später durch eine Resolution des Europäischen Parlaments weiter angefacht wurde. In dieser Entschließung wird die Türkei aufgefordert, den Massenmord als „Genozid“ anzuerkennen.

Das Auswärtige Amt

leistete Widerstand

In Deutschland äußerten sich Politiker unterschiedlicher Couleur ähnlich – von der früheren Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach, über den Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses, Norbert Röttgen (beide CDU), und Grünen-Chef Cem Özdemir bis zu Vertretern der Linkspartei.

Zum Ziel türkischer Kritik wurde unterdessen Bundespräsident Joa- chim Gauck, nachdem er angekündigt hatte, am Tag vor der Sitzung des Bundestages im Berliner Dom an einem ökumenischen Gottesdienst unter dem Titel „Völkermord an Armeniern, Aramäern und Pontos-Griechen“ teilzunehmen und eine Rede zu halten.

Widerstand gegen eine Festlegung Deutschlands auf den Begriff Völkermord kam lange aus dem Auswärtigen Amt. Hier wird befürchtet, dies könne zu einer diplomatischen Eiszeit in den Beziehungen zur Türkei führen. Europa-Staatsminister Michael Roth (SPD) warnte, eine Erinnerungskultur könne nicht „von außen und oben verordnet werden“. Doch der Versuch, den heiklen Genozid-Begriff aus der geplanten Bundestagsresolution zu streichen schlug fehl. Dennoch: An der Gedenkfeier in der armenischen Hauptstadt Eriwan werden weder die Kanzlerin noch der Außenminister teilnehmen.

Wie Komplex die Frage aus deutscher Sicht ist, zeigte die Diskussion der vergangenen Tage. Vor allem Politiker der Grünen griffen die Frage nach einer Mitschuld deutscher Stellen an den Armenierpogromen auf. Als Rechtsnachfolgerin des Kaiserreiches, das im Ersten Weltkrieg mit dem Osmanischen Reich verbündet war, stehe man „in der Mitverantwortung“, betonte Özdemir.

Angst vor Forderungen nach Entschädigung

Tatsächlich gab es amtliche Anweisungen aus Berlin, die den gut informierten deutschen militärischen Instrukteuren vor Ort strikt untersagten, in den Prozeß der Auslöschung der Armenier „als innere Angelegenheit“ des türkischen Reiches einzugreifen. Schon gibt es erste armenische Stellungnahmen, die das Thema Entschädigungsforderungen ins Gespräch bringen. Vor diesem Hintergrund wird der hinhaltende Widerstand des Auswärtigen Amtes verständlicher.

Auch Regierungssprecher Seibert ließ durchblicken, daß das Unbehagen der Bundesregierung über die Festlegung auf den Begriff Völkermord und den möglichen diplomatischen Flurschaden nicht gänzlich ausgeräumt ist. Genauso wichtig wie der verständliche Wunsch, „dieses Leid und diese Verbrechen“ auf einen Begriff zu bringen, sei die Notwendigkeit, zwischen der Türkei und Armenien Aufarbeitung, Versöhnung, Verständigung voranzubringen, forderte er. Dazu wolle Deutschland auch in Zukunft beitragen. „Wir würden es zum Beispiel begrüßen, wenn der Annäherungsprozeß zwischen beiden Ländern, der 2010 angestoßen wurde und der zum Beispiel auch die Bildung einer gemeinsamen Historikerkommission vorgesehen hatte, wieder aufgenommen würde und auch zu sichtbaren Ergebnissen führen könnte“, sagte Seibert.

Er hätte bei dieser Gelegenheit auch die Verbindungen zwischen dem armenischen und dem deutschen Kulturraum in den Vordergrund rücken können. Insbesondere die Bewunderung, die in dem Kaukasusland bis heute Franz Werfel, dem österreichischen Verfasser des Genozid-Romans „Die vierzig Tage des Musa Dagh“, sowie dem evangelischen Theologen und Orientalisten Johannes Lepsius zuteil wird.