© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/15 / 17. April 2015

Beschwiegen im Geiste Europas
Freudenstadt war kein Einzelfall: Die Verbrechen der Franzosen in Südwestdeutschland 1945
Karlheinz Weißmann

Fünf Jahre nach Kriegsende, Anfang 1950, stellte das Institut für Demoskopie die Frage, wie die Deutschen die Besetzung erlebt hatten. Ausgesprochen schlechte Erfahrungen machten danach 37 Prozent der Befragten mit britischen Truppen, 49 Prozent äußerten sich entsprechend über die amerikanischen, 65 Prozent über die französischen. Sogar 95 Prozent klagten über die sowjetische Besetzung – angesichts der Blutspur, die die Rote Armee durch Ost- und Mitteldeutschland gezogen hatte, wenig überraschend.

Heute dürfte dagegen überraschen, daß fast zwei Drittel der Angesprochenen ein so negatives Urteil über die Soldaten Frankreichs fällten. Die Ursache dafür liegt im systematischen Beschweigen jener Vorgänge bei der Okkupation des deutschen Südwestens, die der Historiker am Koblenzer Landeshauptarchiv Peter Brommer als „delikat“ bezeichnet hat. „Delikat“ erscheinen sie vor allem aus der Sicht einer offiziösen Geschichtspolitik, die im Namen der deutsch-französischen Freundschaft zwar alles tut, um die Erinnerung an die Zeit der deutschen Besetzung Frankreichs wachzuhalten, aber auch alles, um die Erinnerung an die Zeit der französischen Besetzung deutschen Gebiets auszulöschen.

Vollständig gelingt das nicht, dazu ist die Erinnerung vor Ort zu lebendig geblieben und die Faktenlage zu eindeutig. Seit dem März 1945 drang die 1. Französische Armee an der Seite der 6. US-Heeresgruppe über das Saarland weiter östlich vor. Unter dem Kommando von General Jean de Lattre de Tassigny agierten die Franzosen allerdings nicht als Hilfstruppen der Amerikaner, wie von deren Oberbefehlshaber General Eisenhower vorgesehen, sondern versuchten vollendete Tatsachen im Sinne einer Politik zu schaffen, die der Chef der provisorischen Regierung in Paris, de Gaulle, entworfen hatte.

Kriegsverbrechen von de Gaulles Kolonialtruppen

Ihm ging es vor allem um zweierlei: die Wiederherstellung der nationalen Ehre durch neue ruhmvolle Waffentaten und die Sicherung von „Pfändern“. Die sollten es erlauben, jene Ziele zu erreichen, die Frankreich 1919 versagt geblieben waren, das heißt die endgültige Zerstörung der deutschen Einheit, die Sicherung des französischen Einflusses auf die westlichen Industriegebiete (vor allem das Saarland und die Ruhr) und die Schaffung eines Sicherheitskordons an der Rheinlinie.

Sehr weit kam man mit diesem Bestreben allerdings nicht, was mit der schwachen Position Frankreichs unter den Siegermächten zusammenhing, aber auch mit der mangelhaften Qualität der französischen Truppen. Die drei Infanteriedivisionen und eine Panzerdivision de Lattre de Tassignys umfaßten 130.000 Mann. Ihre gesamte Ausrüstung kam aus den USA, den Kern der Truppen bildeten Einheiten, die in den Kolonialgebieten Nord- und Schwarzafrikas aus Einheimischen und Franzosen gebildet worden waren, hinzu traten noch Verbände der Forces françaises de l’ intérieur, die man aus dem Widerstand gegen die deutschen Besatzungstruppen rekrutiert hatte.

Die Soldaten der 1. Französischen Panzerdivision, die am 15. April 1945 Freudenstadt, einen wichtigen Verkehrsknotenpunkt im Badischen, erreichten, setzten sich in erster Linie aus marokkanischen, algerischen und westafrikanischen Verbänden zusammen. Sie sollten von hier aus weiter auf Stuttgart und den Oberrhein vorrücken. Obwohl der Ort mit Verwundeten überfüllt war und der Kommandeur der deutschen Truppen in der Umgebung, General Konrad von Alberti, vorschriftswidrig einen offenen Funkspruch absetzen ließ, in dem die Gegenseite darauf hingewiesen wurde, daß Freudenstadt von Kampfverbänden geräumt sei, begann eine sechzehnstündige Beschießung. Dabei kamen auch Brandgranaten zum Einsatz, so daß die mittelalterliche Innenstadt rasch in Flammen stand. Etwa 95 Prozent der Gebäude wurden zerstört, insgesamt 60 Prozent der Häuser überhaupt. Da amerikanische Bombardements die Wasserleitungen beschädigt hatten und Feuerwehrwagen durch Artilleriebeschuß ausfielen, war an Löschen kaum zu denken. Erst am 17. April konnte die Stadt übergeben werden.

Gerechtfertigt wurde die Vernichtung der Stadt von französischer Seite damit, daß man auf heftige Verteidigung gefaßt gewesen sei. Ein Eindruck, der durch das Dutzend Waffen-SS-Soldaten oder Werwölfe, die vor der Stadt kurzzeitig eine Stellung gehalten hatten, kaum ausgelöst worden sein kann. Faktisch widersprechen dieser Behauptung nicht nur Dauer und Heftigkeit des Beschusses – bei fehlender Gegenwehr –, sondern auch der Fortgang der Dinge. Jedenfalls stieg die Zahl der Ziviltoten von etwa fünfzig Opfern in den Tagen nach der Kapitulation auf siebzig an. Das lag zum einen daran, daß bei Brandstiftungen durch französische Soldaten auch noch das Rathaus, jetzt Sitz der französischen Kommandantur, zerstört wurde und man daraufhin alle Männer des Ortes zwischen 16 und 50 festsetzte, um sie wegen „Terrorismus“ vor ein Kriegsgericht zu stellen. Beim Abtransport in Richtung Pfullendorf starben vier von ihnen durch einen Autounfall, bevor das Ganze abgebrochen wurde. Die übrigen Zivilisten kamen ums Leben, entweder weil betrunkene Soldaten auf sie schossen, weil sie ihr Eigentum gegen Marodeure zu schützen suchten, vor allem aber, wenn sie sich als Frauen einer Vergewaltigung entziehen wollten, oder aber Frauen gegen die Übergriffe verteidigten. Man nimmt an, daß es in Freudenstadt etwa 500 bis 600 Vergewaltigungen gab.

Drei „Freinächte“ für die Eroberung Freudenstadts

Sehr früh kam in Umlauf, die französischen Offiziere hätten ihren Männern drei „Freinächte“ für die Eroberung Freudenstadts versprochen. Diese Erklärung erscheint in jedem Fall plausibler als die These, es habe sich um verständliche Racheaktionen derjenigen gehandelt, die vorher in ihrem Land unter der deutschen Okkupation gelitten hatten. Abgesehen davon, daß ein vergleichbares Vorgehen durch die Wehrmacht bis heute nicht behauptet oder belegt wurde, ist festzustellen, daß die französischen Kolonialgebiete, aus denen die Einheiten in Freudenstadt kamen, niemals unter deutscher Kontrolle standen, und im Fall der dort rekrutierten Marokkaner, Algerier, Tunesier oder Schwarzafrikaner von einer Reaktion gar keine Rede sein kann.

Demgegenüber spricht viel dafür, daß das, was sich in Freudenstadt abspielte, auch sonst zur Praxis dieser Einheiten gehörte. „Maroquinades“ ist im Französischen ein terminus technicus für die systematische Vergewaltigung von Frauen des besiegten Feindes, die in einem archaischen Verständnis von Kriegführung als „Beute“ betrachtet wurden (JF 26/14). Wie groß die Zahl geschändeter Frauen in Freudenstadt und den sonst von französischen Truppen besetzten Gebieten tatsächlich war, ist nicht mehr festzustellen. Zu bedenken ist auch, daß viele Opfer aus Scham über ihr Schicksal geschwiegen haben. Einen gewissen Eindruck vermittelt allerdings die Feststellung des Koblenzer Regierungspräsidenten, der 1949 von etwa 3.000 „Besatzungspersonenschäden“ im Territorium des späteren Landes Rheinland-Pfalz sprach. Daß die Vorgänge unter den Augen der verantwortlichen französischen Offiziere geschahen, ist ebenso unbestreitbar wie die geringe Zahl der zur Verantwortung gezogenen Täter. Trotz der Androhung drastischer Strafen für Plünderung oder Vergewaltigung ist in der Literatur lediglich von zwei hingerichteten Marokkanern die Rede. Halb entschuldigend äußerte der Chef der Militärverwaltung in Stuttgart, General Jacques Schwartz, die Kolonialtruppen hätten eben nicht die „kulturelle Höhe und die moralische Kraft der französischen Armee“.

Überzeugend wird das auf die Zeitgenossen nicht gewirkt haben. Der Heimatchronist vermerkte ausdrücklich, daß man „Tübingen und Königsfeld ein ähnliches Schicksal“ wie Freudenstadt angedroht habe, falls sie Widerstand leisteten. In Teilen der deutschen Bevölkerung erinnerte man auch sehr deutlich, daß während der französischen Rheinlandbesetzung nach dem Ersten Weltkrieg bevorzugt schwarz- und nord-afrikanische Soldaten eingesetzt worden waren, was einerseits der zusätzlichen Demütigung der besiegten Deutschen diente – die „schwarze Schmach“ –, andererseits jederzeit die Möglichkeit bot, die Verantwortung für Übergriffe auf jene „Wilden“ abzuschieben, die taten, was ein Europäer nicht tat.

Bezeichnenderweise spielt keiner dieser Aspekte irgendeine Rolle in dem 2010 von Arte, HR und SR produzierten Film „1945 – Als die Franzosen Deutschland besetzten“. Ausführlich kommen darin französische Veteranen zu Wort, die ihre Motive, auch ihr Bedürfnis nach Vergeltung, ganz offen benennen. Die deutschen Zeitzeugen wirken demgegenüber eigenartig gehemmt, sich der Tatsache wohl bewußt, daß man in jedem Fall Schuldbewußtsein von ihnen erwartete. Es geht zwar auch um die Vergewaltigungen, aber dem darf dann von französischer Seite widersprochen werden, und schließlich bleibt es bei der Feststellung, daß niemand Genaues wisse, und die Zerstörung Freudenstadts erscheint als „Verhängnis“ und letztlich logische Konsequenz des fatalen Glaubens der Deutschen an den „Endsieg“.

Foto: Freudenstadt nach dem Einmarsch der Franzosen 1945: Der Wunsch nach ruhmvollen Waffentaten