© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/15 / 17. April 2015

Religionsfreiheit vor Gericht
Furchtbare Juristen
Alexander Heumann

Was du auch tust, bedenke stets das Ende“, heißt es in der Bibel (Sirach 7,36). Das Bundesverfassungsgericht aber hat bei seiner Judikatur zur Glaubensfreiheit von Beginn an falsche Wege eingeschlagen und einen jahrzehntelangen Prozeß juristischer Selbstentwaffnung eingeleitet.

In den sechziger Jahren wurde einem Ex-Obersturmführer der SS die Haftverkürzung versagt, weil er im Zuchthaus für Kirchenaustritt und völkischen Radikalismus geworben hatte – er berief sich auf die „Religionsfreiheit“. Das Gericht schwankte: Einerseits schütze unser Grundgesetz nur Weltanschauungen, die sich bei „heutigen Kulturvölkern auf dem Boden (…) übereinstimmender sittlicher Grundanschauungen“ geschichtlich herausgebildet hätten; die Abgrenzung sei indes „schwierig“. Andererseits dürfe „der weltanschaulich neutrale Staat (…) den Glauben oder Unglauben seiner Bürger nicht bewerten.“ Im Ergebnis wurde nicht dem Faschismus der Schutz der Religionsfreiheit versagt, sondern der „mißbräuchlichen“ Methode der Glaubensabwerbung: Der Häftling hatte seinen Mitgefangenen im Gegenzug Tabak versprochen. Und mußte deshalb die Haftstrafe in voller Länge absitzen.

Sind Gesetzbücher Speisekarten, aus denen man nach religiösem Gutdünken wählen darf? Lautet nicht ein Grundsatz der Verfassung: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“? So verstanden öffnet „Religionsfreiheit“ geradezu faustische Abgründe.

Schon hier war die Chance vertan, aus dem Menschenbild des Grundgesetzes und der europäischen Verfassungsgeschichte Konturen für die Religionsfreiheit herzuleiten: Natürlich darf der Staat „den Glauben seiner Bürger nicht bewerten“. Europas blutige Religionskriege führten zum einsichtigen Diktum Friedrichs des Großen: Jeder darf glauben, was er will und „nach seiner Façon“ glücklich werden. Das hat Eingang in alle Menschenrechtskodifikationen gefunden, auch in unser Grundgesetz: Nach Artikel 4, erster Absatz ist die Glaubensfreiheit „unverletzlich“.

Das meint aber nur den engen Bereich „privater“ Lebensführung. Zwar wird im zweiten Absatz auch die „ungestörte Religionsausübung“ im „öffentlichen“ Raum „gewährleistet“, aber Artikel 140, der auf die Weimarer Reichsverfassung verweist, stellt klar: „Staatsbürgerliche Rechte und Pflichten werden durch die Ausübung der Religionsfreiheit weder bedingt noch beschränkt.“ Das Bundesverfassungsgericht übersieht diese Grenze der allgemeinverbindlichen Gesetze und kreiert ein schrankenloses Supergrundrecht, das nur nach „Abwägung“ mit kollidierendem Verfassungsrecht – etwa Grundrechten Dritter – zurückzutreten hätte.

Selbst das Strafrecht gilt nach seiner Lesart nicht für alle gleichermaßen: Ein Fundamentalist hatte sich geweigert, seine schwerkranke Ehefrau zur Bluttransfusion zu überreden; er liebte seine Frau, wollte sie aber gesundbeten, wie es seine Religion verlangt. Sie starb – er wurde wegen unterlassener Hilfeleistung verurteilt. Das Gericht kippte das Urteil: Es sei Gebot der „Menschenwürde“, die „innere Not“ des Gläubigen nicht nur strafmildernd, sondern schon bei der Auslegung von Straftatbeständen zu berücksichtigen.

Aber sind Gesetzbücher Speisekarten, aus denen man nach religiösem Gutdünken à la carte wählen darf? Lautet nicht der oberste Gleichheitssatz der Verfassung: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“? So verstanden öffnet „Religionsfreiheit“ geradezu faustische Abgründe, insbesondere wenn sie – wie das Gericht immer wieder betont – das Recht beinhaltet, die „gesamte Lebensführung“ nach Religionsgeboten auszurichten: Angenommen, aztekische Indianer opferten hierzulande Freiwillige aufgrund eines religiösen Gebots, so fiele das darunter. Zwar ist „Tötung auf Verlangen“ – also aktive Sterbehilfe – (noch) strafbar: Ob sich jemand „opfern“ lassen oder einfach sein krankheitsbedingtes Leiden zum Tode verkürzen will, spielt an sich keine Rolle. Aber mit dem Passepartout der „Religionsfreiheit“ könnte man das anders auslegen; dann wäre der Weg für derartige Naturreligionen frei.

Vor zweitausend Jahren entgegnete Jesus dem Pilatus: Ja, er sei der „König der Juden“, aber: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt.“ Mit diesem Respekt vor weltlicher Herrschaft und Gesetz war schon der Keim gesät für die Zwei-Reiche-Lehre des Kirchenvaters Augustinus, die auch von Luther bei der Reformation aufgegriffen wurde: die Trennung von Kirche und Staat, von Religion und Politik, auf der der moderne säkulare Verfassungsstaat fußt. Das Bundesverfassungsgericht aber entfernt sich hiervon wieder.

Mit seinem Kruzifix-Beschluß von 1995 knüpft es sodann wieder an die als lupenrein verstandene staatliche „Neutralität“ in weltanschaulichen Fragen an: Das christliche Kreuz an der Schulwand – historisch die „zentrale Ikone Europas“ (Dietrich Schwanitz) – wurde nun zur verfassungswidrigen Zumutung für anthroposophische Schüler. Da Grundrechte als Abwehrrechte des Bürgers gegen staatliche Willkür konzipiert sind, konnte sich der Staat selbst nicht auf das Supergrundrecht der Religionsfreiheit berufen.

Mit dem ersten Kopftuch-Beschluß (2003) erfolgte der nächste Karlsruher Paukenschlag: Eine muslimische Lehrerin weigert sich, während des Unterrichts ihr Kopftuch abzulegen. Das Schulamt spricht ihr deshalb ihre „Eignung“ für den Schuldienst ab: Vom Kopftuch als „politischem“ Symbol des Islam gehe „die Wirkung kultureller Desintegration“ aus, was dem pädagogischen Schulauftrag zuwiderlaufe. Es stehe unter anderem gegen die Gleichberechtigung der Frau; der Staat habe diese aber nach dem Grundgesetz „tatsächlich“ durchzusetzen und „auf die Beseitigung bestehender Nachteile hinzuwirken“. Das Gericht läßt das alles nicht gelten: Die Lehrerin sei in ihrer „Religionsfreiheit“ verletzt. Allein aus dem Kopftuch mangelnde Verfassungstreue herzuleiten, „verbiete“ sich. Das Drama nimmt seinen Lauf.

Auch diese Entscheidung war fragwürdig: Lehrkräfte können sich bei der Ausübung eines staatlichen Amts ebensowenig auf Grundrechte berufen wie der Staat selbst. Für die Lehrerin streitet indes ein spezielles Diskriminierungsverbot, das den „gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amte“ gebietet, wobei niemandem aus seiner Religionszugehörigkeit „ein Nachteil erwachsen“ darf.

Klarer Fall? Halt! Die Schulbehörde hat die Eignung der Anwärterin nicht etwa verneint, weil diese Muslimin ist! Sondern weil sie darauf beharrte, ihre Schüler mit Kopftuch zu unterrichten. Dennoch meint das Bundesverfassungsgericht, die Zulassungsverweigerung erfolge aus „Gründen, die mit der Glaubensfreiheit unvereinbar“ seien. Und wenn ein Bundesland ein generelles Kopftuchverbot wolle, müsse es das in seinem Schulgesetz regeln. So verfuhren dann in der Folgezeit nahezu alle Bundesländer.

Nächster Akt: Beim Land Nordrhein-Westfalen angestellte Pädagoginnen erhalten Abmahnungen wegen ihres Kopftuchs; sie lassen das reformierte Schulgesetz in Karlsruhe überprüfen. Nun heißt es, ein Kopftuchverbot sei nicht durch (landeseinheitliches) Gesetz, sondern nur durch lokal begrenzte (und zeitlich befristete) behördliche Regelungen zulässig. Eltern könnten diese erwirken, wenn sie erfolgreich den Schulfrieden in der Schule torpedieren, die ihr Kind besucht. Aber selbst das ist Illusion: Nach hergebrachtem Verständnis sind sie es dann, die den Schulfrieden „stören“, nicht jedoch die Lehrkraft mit Kopftuch. „Und im allgemeinen hat der Staat gegen die Störer vorzugehen, nicht jedoch gegen diejenigen, die legitimerweise von ihren Grundrechten Gebrauch machen“, geißelt der frühere Verfassungsgerichtspräsident Hans-Jürgen Papier das aktuelle Urteil zu recht. Muslime können somit – nun in dieser Weise munitioniert – auch künftige „schulfriedenwahrende“ Verordnungen gerichtlich anfechten. Und was aus dem „Schulfrieden“ in Stadtbezirken wie etwa Berlin-Neukölln wird, mag man sich gar nicht erst ausmalen. Nicht nur auf muslimische Mädchen wird der Druck verstärkt, sich korangetreu zu verhalten. Ohnehin schon gemobbte „ungläubige“ Schüler sind nun womöglich auch noch mit Klassenlehrerinnen konfrontiert, die mit Kopftuch „Flagge zeigen“.

Das Verfassungsgericht wird den Geist totalitärer Toleranz so lange nicht mehr in die Flasche zurückbekommen, wie es nicht seine gesamte politisch korrekte Judikatur zur Religionsfreiheit revidiert, die den Charakter von Gesinnungsjustiz angenommen hat.

Die Crux: Je imperativer ein religiöses Gebot – wie etwa das islamische Bedeckungsgebot für Frauen – ist, und damit: je weniger säkularisiert und aufgeklärt die Religion, die es beinhaltet –, desto schwerer soll die Religionsfreiheit bei der Abwägung mit Grundrechten Dritter wiegen. Und diese Würdigung überläßt das Gericht immer schon dem Selbstverständnis der jeweiligen Religion, hier also Imamen auf Grundlage von Koran, den gesammelten Geschichten aus dem Leben Mohammeds sowie der Rechtssätze der Scharia. Ist das noch weltanschauliche „Neutralität“ – oder die Büchse der Pandora?

Niemand darf wegen seines Glaubens benachteiligt, aber eben auch nicht bevorzugt werden, so steht es in Artikel 3 GG. Hier aber wird das Archaische, unserer Kultur längst Fremde um der „Gleichheit“ willen privilegiert. Das Gericht beugt sich einem linksliberalen Zeitgeist, der skurrilerweise dem Islam mildernde Umstände gewährt, die er liberaleren Religionen und Kulturen verwehrt, insbesondere der eigenen.

Selbst das Kindeswohl tritt im Kopftuchbeschluß hinter die „Religionsfreiheit“ zurück. Kinderschutz und elterliches Gewaltverbot wurden zuvor schon vom Gesetzgeber aufgeweicht, um „kulturell bedingte“ Geschlechtsbeschneidung bei Jungen zu ermöglichen, obwohl das Körperverletzungen mit nicht revidierbaren Folgen sind. Für die Beschneidung bei Mädchen gilt das (noch?) nicht: Gleichheit der Geschlechter?

Auch das Tierschutzgesetz erweist sich qua „Religionsfreiheit“ des islamischen Metzgers als löchrig, der Tiere ohne Betäubung qualvoll verenden lassen darf. Und Gerichte folgerten aus der Glaubensfreiheit schon den Zwang, das Arbeitsrecht islamisch umzugestalten, mit Sonder-Betpausen und neuartigen Optionen der Arbeitsverweigerung. Arbeitgeber werden deshalb mit einem „Antidiskriminierungsgesetz“ gezwungen, solcherart Privilegierte gleichwohl einzustellen. Durch die Kopftuchbeschlüsse gilt das nun auch für den Staat. Verbreitete Sorgen, daß nun für Richterinnen mit Kopftuch – und vieles mehr – der Weg frei werde, sind nach alledem berechtigt.

Viele meinen nun, man müsse im Schulwesen zurück zum strengen Laizismus des Kruzifix-Beschlusses: Alles muß raus, was irgendwie nach Religion riecht. Des Pudels Kern liegt aber woanders. Das allgemeine Gleichbehandlungsgebot hat auch eine Kehrseite: Wesentlich Ungleiches ist ungleich zu behandeln. Sind vor der Verfassung wirklich alle Religionen gleich – oder ist das eine nicht mehr hinterfragte „Ideologie“, wie das Magazin Cicero zu Recht fragt?

Dem Bundesverfassungsgericht sind Differenzierungen beim „juristischen“ Begriff der „Religion“ keineswegs fremd: Die „Scientology Church“ – in den USA als Religion anerkannt – hielt das Gericht hierzulande nicht für eine „Religion“, weil sie ausschließlich andere als spirituelle – hier: ökonomische – Zwecke verfolge. Genauso könnte dem Islam sein immens „politischer“ Anspruch zum juristischen Stolperstein werden. Aber darf eine „Weltreligion“ auf einen solchen Prüfstand, könnte man fragen. Warum denn nicht? Auf zahlenmäßige Stärke der Gläubigen oder soziale Relevanz komme es für eine Religion nicht an, hat das Verfassungsgericht schon früh klargestellt.

Der Staats- und Verfassungsrechtler Karl Albrecht Schachtschneider veröffentlichte eine Monographie zu den „Grenzen der Religionsfreiheit am Beispiel des Islam“, die vom Bundesverfassungsgericht ignoriert wird. Sein juristisches Votum nach Analyse des Koran: Muslime könnten sich zwar im „Privatleben“ auf die (unverletzliche) Glaubens- und Bekenntnisfreiheit berufen. Das Recht zur „ungestörten Religionsausübung“ im „öffentlichen“ Raum hingegen gewährleiste die Verfassung von vornherein nur säkularisierten Religionen, die Staat und Kirche trennen und keinen politischen Herrschaftsanspruch verfolgen.

Der Islam könne dieses Recht nicht in Anspruch nehmen, da er imperativ Theokratie, Scharia und Unterordnung der Frau anstrebe. Es fänden sich im Koran zudem viele Verse, die zum globalen Dschihad aufrufen, der auch Gewalt an „Ungläubigen“ einschließe. Alles das sei unvereinbar mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung und dem Gedanken der Völkerverständigung und daher verfassungsfeindlich. Deswegen seien nicht nur salafistische und dschihadistische, sondern islamische Vereine generell zu verbieten. Daß unter dieser Prämisse erst recht nicht Lehrkräften islamische Kopftücher im Schulunterricht erlaubt werden können, versteht sich von selbst.

Das Bundesverfassungsgericht aber wird den Geist totalitärer Toleranz so lange nicht mehr in die Flasche zurückbekommen, wie es nicht seine gesamte politisch korrekte Judikatur zur Religionsfreiheit revidiert, die den Charakter von Gesinnungsjustiz angenommen hat.

Alexander Heumann, Jahrgang 1962, ist Fachanwalt für Familienrecht in Düsseldorf. Der Volljurist studierte Betriebswirtschaftslehre und Rechtswissenschaften in Berlin, Mannheim und zuletzt Heidelberg.

Foto: Richter am Bundesverfassungsgericht: Aus der Ikone Europas eine verfassungswidrige Zumutung gemacht