© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  16/15 / 10. April 2015

Der Flaneur
Der Händler wird nichts los
Paul Leonhard

Der Platz am Fluß ist voller Menschen. Hunderte sind zum Trödelmarkt unterhalb der Brücke gekommen. Auch mich zieht mindestens einmal im Monat das bunte Treiben an, um zu bummeln, zu staunen und zu erleben, wie Kindheitserinnerungen beim Anblick des einen oder anderen Gegenstandes wach werden.

Diesmal ist unter den vielen Stammhändlern auch ein neuer. Der Sprache nach zu urteilen ein Araber. Vor sich hat der Mann zwei Dutzend Bananenkisten auf Tapeziertischen aufgebaut, in denen er seine Schätze aus Tausendundeiner Nacht präsentiert: Briefmarkenalben über Briefmarkenalben. Kleine, dicke, große, grüne, blaue, rote.

Auch Hindenburg und Hitler, dann Ulbricht hier und Heuss- und Heinemann-Köpfe da.

Ob er ein leeres Album dabeihabe, das könnte ich brauchen. Aber der Händler verneint. Trotzdem beginne ich neugierig zu blättern. Vielleicht ist ja eines fast leer. Und da sind sie schon, die altvertrauen Marken aus der Kinderzeit: die Serie zum 20. Jahrestag der DDR mit den modernen Bauten, die Spanienkämpfer und die Abbilder deutscher Patrioten, Schill, Blücher, Studenten vor der Wartburg, Barrikadenkampf, Revolution.

Inflations- und Germania-Marken aus den zwischen den Enkeln aufgeteilten Sammlungen der Großväter. Auch Hindenburg und Hitler, dann Ulbricht-Köpfe hier und Heuss- und Heinemann-Köpfe da, in allen Farben und Werten. Nichts Aufregendes, nur Erinnerungen. Die Serien mit den kriegsbedingt vermißten Gemälden – wie viele sind doch noch gefunden worden? Krakelige Kinderschrift auf einem kleinen Album: „Menschen, Kosmonauten, Tiere“. Es sind fast alles Anfängersammlungen, wie sie in fast jeder Familie zu finden sind.

Ein schmales Album halte ich schließlich in den Händen: Zwei Seiten sind mit Belanglosem gefüllt. Ich frage nach dem Preis. Bedächtig blättert der Händler durch die leeren Seiten, verweilt bei den wenigen Briefmarken und nennt eine Summe, bei der ich wortlos das Album zurück in die Kiste lege. „So wirst du hier nichts los“, denke ich noch.

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