© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  16/15 / 10. April 2015

Thalers Streifzüge
Thorsten Thaler

Es ist einige Minuten nach acht, als ein Murren durch den Saal geht. Eigentlich sollte jetzt hier im Tempodrom die Show „Rock meets Classic“ beginnen. Statt dessen tritt irgendein Heini auf die Bühne und erklärt launig, daß wir ja wüßten, wenn ein Typ wie er erscheine, dann stimme etwas nicht, und das sei jetzt auch so. Es gebe Tonprobleme, ein Computer habe seinen Dienst versagt. Tatsächlich stehen um das Mischpult, das ich von meinem Platz aus gut im Blick habe, fünf, sechs Leute herum, beratschlagen sich, stecken Kabel um, prüfen die Funktionsfähigkeit der verschiedenen Tasten und Kanalregler. Das kann heiter werden. Viele Besucher verlassen den Saal, versorgen sich im Foyer mit Getränken oder gehen zum Rauchen vor die Tür. Die Stimmung ist gelassen, alle scheinen der Ankündigung des Überbringers der schlechten Nachricht zu vertrauen: Wir wollen auf alle Fälle spielen.

Mit einer knapp halbstündigen Verspätung legen die Mat Sinner Band und das Bohemian Symphony Orchestra aus Prag los, Flammen schießen empor, Marc Storace, Frontmann der Schweizer Hardrock-Band Krokus, röhrt zum Auftakt „Thunderstruck“ von AC/DC ins Mikro. Danach geht es Schlag auf Schlag, Höhepunkte sind die Auftritte der italienischen Rockröhre Gianna Nannini, von John Wetton (Asia), Rick Parfitt (Status Quo) und Ian Gillan

(Deep Purple). Das ist Nostalgie pur, ein Treffen von Legenden, allesamt zwischen sechzig und siebzig, doch weit davon entfernt, peinlich zu wirken. Im Gegenteil, wie Ian Gillan das vierzig Jahre alte Stück „When a Blind Man Cries“ singt, beschert Gänsehautmomente. Fazit des Abends: Die Alten haben’s immer noch drauf.

Fortsetzung der begonnenen Volker-Kutscher-Lektüre mit „Der stumme Tod“, dem zweiten Kriminalroman um den Mordermittler Gereon Rath. Darin findet sich eine schöne Beschreibung des Berliner Charakters: „Der einzige Menschenschlag, der den Berlinern in der Hektik ihrer Stadt sofort und unangenehm auffiel, war der des staunenden Provinzlers. Weil der viel zu langsam durch die Stadt trottete, dauern stehenblieb, um irgendetwas anzuglotzen, und jede Sekunde Gefahr lief, dabei überfahren oder überrannt zu werden. Mit Neuankömmlingen ging diese Stadt unbarmherzig um (…), entweder wurden sie nach ein paar Wochen verschlungen und dem großen Stadtorganismus einverleibt oder aber wieder ausgespuckt.“ Die Handlung spielt im März 1930. Heute, fünfundachtzig Jahre später, müßte hinzugefügt werden: Es werden leider viel zu wenige wieder ausgespuckt.

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