© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/15 / 27. März 2015

Ein Programm der klassenlosen Einheit
Auf dem CDU-Parteitag im März 1965 warb Bundeskanzler Ludwig Erhard für das postindustrielle Konzept der „Formierten Gesellschaft“ / Die Union wollte modern wirken
Karlheinz Weissmann

Der 13. Parteitag der CDU fand zwischen dem 28. und dem 31. März 1965 in Düsseldorf statt. Organisation und Ablauf entsprachen dem üblichen Muster, aber das Design war ungewohnt. An die Stelle des alten Abzeichens mit dem martialischen goldenen Adler vor der Fahne des 20. Juli, der sonst Veranstaltungsraum, Fähnchen und Drucksachen zierte, hatte man ein Logo gesetzt, bestehend aus orangefarbenem Kreis und schwarzem Kürzel „CDU“, darunter nur ein Strich und „Bundesparteitag 1965“. Die Umgestaltung war keine Äußerlichkeit, sondern ein Signal. Die Union wollte modern und unverbraucht wirken, nicht als in die Jahre gekommene Regierungspartei der Bundesrepublik.

Vor allem der neue Bundeskanzler, Ludwig Erhard, sah Veränderungsbedarf. Der war gegen die Widerstände innerhalb der Union aber nur schwer durchzusetzen. Zwischen Erhard und seinem Vorgänger Konrad Adenauer herrschte eine intime Feindschaft, die aus dem Unmut des „Alten“ über die eigene Entmachtung resultierte, aber auch aus Meinungsverschiedenheiten über den weiteren Weg Westdeutschlands. Adenauer verfolgte nach seinem Rücktritt eine Nebenstrategie zur offiziellen, mit der er glaubte, das Projekt des „karolingischen“ Europas doch noch zu verwirklichen und die Aufrechterhaltung seiner innenpolitischen Linie zu erzwingen.

Eine Übereinstimmung fast aller politischen Kräfte

Dagegen tat Erhard alles, um die nach dem Mauerbau belasteten Beziehungen zu den USA wieder zu verbessern und auf den sich ankündigenden gesellschaftlichen Klimawechsel zu reagieren. Erhard glaubte in der Entwicklung jenseits des Atlantiks deutlich zu erkennen, in welche Turbulenzen die europäischen Staaten durch ungeklärte soziale Fragen und neue ideologische Strömungen geraten könnten. Probleme, auf die Kennedy mit der Vision der „great society“ reagieren wollte: der Beschwörung eines neuen Idealismus und einer harmonischen Verfassung.

Wenn Erhard in seiner programmatischen Parteitagsrede 1965 den Begriff „Formierte Gesellschaft“ verwendete, war damit eine Entsprechung zu „great society“ gemeint. Denn auch die „Formierte Gesellschaft“ sollte eine Ordnung verbürgen, „die nicht mehr von sozialen Kämpfen geschüttelt und von kulturellen Konflikten zerrissen ist, deren Leistungsfähigkeit aber auch nicht mehr, wie im Zeitalter des Imperialismus, von der Beherrschung kolonialer Rohstoffquellen und Absatzmärkte abhängig ist“. Das klang unverfänglich und entsprach über weite Strecken dem technokratischen Konsens der sechziger Jahre: eine Übereinstimmung fast aller politischen Kräfte im Hinblick auf die Notwendigkeit rationaler, wissenschaftlich gestützter, letztlich auf Sachzwänge reagierender, jedenfalls nicht weltanschaulich fixierter Staatslenkung.

Dagegen dürfte den Zeitgenossen kaum bewußt gewesen sein, in welcher Tradition der Begriff „Formierte Gesellschaft“ stand, den Friedrich Schiller schon als Synonym für das politische Volk benutzt hatte und auf den einer der wichtigsten Berater Erhards – Rüdiger Altmann – zurückgriff, um auf Wortwahl und Rede des Kanzlers Einfluß zu nehmen. Altmann gehörte damals zur kleinen Zahl von Intellektuellen, die zur CDU hielt. Schon 1954 hatte er mit Johannes Gross die RCDS-Zeitschrift Civis gegründet, 1956 übernahm er die Leitung der CDU-nahen Akademie Eichholz.

Altmann war allerdings kein Parteifunktionär, sondern ein ausgesprochen beweglicher Geist. So trat er auch in Verbindung zu Carl Schmitt, dem „Avancierriesen“ (Hanno Kesting) im Reich verbotener Gedanken. Altmann vermied zwar die offene Bezugnahme, aber sein Krypto-Schmittismus spielte doch eine Rolle für seine bevorzugten Argumentationsweisen, und auch der etatistische Beigeschmack des Begriffs „Formierte Gesellschaft“ war sicher kein Zufall. Schon 1960 hatte Altmann in seinem vieldiskutierten Buch „Das Erbe Adenauers“ geschrieben: „Die komplizierte Apparatur der Öffentlichkeit und die hinter ihr stehenden Massen brauchen eine gewisse Regie“, sonst drohe das soziale Gefüge auseinanderzubrechen, weil es nicht mehr gelingen werde, „aus der verwirrenden Vielfalt der Situationen eine Einheit“ zu schaffen.

Diese Sorge teilte der „Ordoliberale“ Erhard. Bereits in der Denkschrift, die er 1943/44 für den Wiederaufbau der Wirtschaft erarbeitet hatte, fand sich die Notwendigkeit betont, von der Idee des „Nachtwächterstaates“ abzukommen und den „starken Staat“ anzuerkennen, um einerseits den Zerfall des größeren Ganzen zu verhindern, andererseits den Begehrlichkeiten der Interessengruppen und einzelnen einen Riegel vorzuschieben. Wie man Erhards späteren Äußerungen entnehmen kann, ging er davon aus, daß die Industrialisierung nach einer Phase des scharfen Antagonismus von Bürgertum und Proletariat in den des Pluralismus übergegangen sei und nun einer neuen Zusammenfassung bedürfe, in Gestalt einer klassenlosen Einheit, die Fliehkräfte bändigen sollte, ohne ins Totalitäre umzuschlagen.

Das alles hat Erhard in seiner Rede auf dem Düsseldorfer Parteitag hinreichend deutlich gemacht. Aber sein „Programm für Deutschland“ fand keine Resonanz. Das hing zuerst mit der Unklarheit des Bezugspunktes – Europa? Das ganze Vaterland? Die Bundesrepublik? – zusammen, dann mit der nur im Negativen deutlichen Konturierung – kein „überholter Nationalismus“, kein „Ständestaat“ – und dem Eindruck, es gehe Erhard vor allem um Bremswirkung in bezug auf die „rein konsumtiven Sozialleistungen“. Es zeigte sich jedenfalls rasch, daß die „Formierte Gesellschaft“ weder als Parole für den bevorstehenden Wahlkampf noch als Basis für die von Erhard eingeleitete Reform des Steuersystems und des Föderalismus geeignet war. Statt dessen bot sie den politischen Gegnern Angriffsflächen, um der „Formierten“ die „Offene“ (FDP) oder „Mündige Gesellschaft“ (SPD) entgegenzusetzen, und angesichts des neuen linken Zeitgeistes blieb es natürlich nicht ohne Wirkung, wenn ein so einflußreicher Sprecher der jungen Akademiker wie Ralf Dahrendorf die Drohung des „autoritären Leistungsstaates“ an die Wand malte und die Marxisten sowieso Faschismus witterten.

Dem Projekt fehlte der nachhaltige politische Wille

Verteidiger des Projektes gab es jedenfalls kaum. Den Positionen des Kanzlers und seines Beraterkreises – der „Brigade Erhard“ wie man in Bonn spottete – fehlte die mobilisierende Kraft. Altmanns Analyse, daß es immer schwerer werde, sich „mit dem Aktionsprogramm dieser Gesellschaft, zumal der pluralistischen, zu identifizieren“, war zwar unbestreitbar, aber Abhilfe nicht in Sicht. Er selbst verlor rasch die Lust an der Sache, und dem „wamperten Professor“ (Gross über Erhard) fehlte der politische Wille, sie mit dem notwendigen Nachdruck voranzutreiben.

Es gelang Erhard zwar, bei der Bundestagswahl vom September 1965 mit 47,6 Prozent der Stimmen einen großen Erfolg für die Union zu erringen, aber die Koalition mit der FDP war nur noch ein Jahr fortzusetzen, und seine Stellung in der CDU geriet zunehmend unter Druck. Die Vorstellung, daß ausgerechnet Erhard der Mann sein könnte, der den Westdeutschen eine neue politische Idee gibt, erwies sich als Irrtum. Seine Verdienste um Wiederaufbau und Sicherung des „Wohlstands für alle“ lagen zurück, die Einschätzung der ideologischen Lage war seine Sache nicht, sowenig wie der Kampf um die Deutungshoheit.

Foto: Rüdiger Altmann (l.) und Johannes Gross (M.) bei der „Bonner Runde“ des ZDF 1976: „Formierte“, „Offene“ und „Mündige“ Gesellschaft

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen