© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/15 / 27. März 2015

Kein politisches Vorbild für eine bunte Republik
Vor 200 Jahren wurde der „Eiserne Kanzler“ geboren: Otto von Bismarcks langer Marsch ins Panoptikum der deutschen Geschichte
Andreas Eckel

Zum 1. April 1965, seinem 150. Geburtstag, ehrte das Bonner Parlament Otto von Bismarck mit einer Feierstunde, in der Bundeskanzler Ludwig Erhard die Festrede hielt, um seinen großen Amtsvorgänger als Bürgen der Wiedervereinigung anzurufen. Ein Gedenken, das sich am 1. April 2015 im Berliner Reichstag nicht wiederholen wird. Und zwar nicht etwa deshalb, weil das von Ludwig Erhard ersehnte Ziel, die Wiederherstellung des kleindeutschen Bismarckreiches, inzwischen erreicht ist.

Wer es sich leicht machen will, erklärt diese erinnerungspolitische Abstinenz mit dem oft beklagten raschen Abschmelzen geschichtlicher Bildung, wie es gerade nach dem Mauerfall zu registrieren war. Wer indes genauer hinschaut, dürfte zögern, dafür der Schul- und Hochschulpolitik der multikulturell zunehmend in Parallelgesellschaften zerfallenden Berliner Vielvölker-Republik die Hauptverantwortung zuzuschieben. Zwar mag die Distanz zu Bismarck und zu seiner Schöpfung, dem zweiten Deutschen Reich, sich ausgerechnet im – unter Inkaufnahme schmerzlichster territorialer Verluste – wiedervereinigten Deutschland in extrem kurzer Zeit vergrößert haben. Aber trotzdem setzte sich ab 1990 einfach nur beschleunigt fort, was in beiden deutschen Staaten, BRD und DDR, 1949 begann: der Abschied von der ethnisch homogenen Nation, politisch, kulturell, mental.

Nach 1970 kein Vorbild mehr für die Westdeutschen

Beide nichtsouveräne Teilstaaten waren von Anfang an eingebunden in supranationale Machtkomplexe, Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG, die heutige EU) und Nato hier, Comecon und Warschauer Pakt dort. Hüben mehr, drüben weniger, vollzog damit die Eingewöhnung in den Internationalismus mit kapitalistischem oder sozialistischem Antlitz. Folgerichtig strich das SED-Regime 1974 die Wiedervereinigungsklausel aus der DDR-Verfassung zugunsten der engeren Integration im Ostblock und des immerwährenden Bündnisses mit der Sowjetunion. Entsprechend galt es im sozialliberalen Bonn zu Willy Brandts Zeiten, ungeachtet der verfassungsgerichtlich festgeklopften Doktrin vom Fortbestand des Deutschen Reiches sowie des grundgesetzlichen Wiedervereinigungsgebots, als Ausweis realpolitischen Denkens, die Einheit als „Lebenslüge“ im Geschichtsmuseum zu entsorgen. So hatten sich diesseits und jenseits der „Friedensgrenze“ neue deutsche Identitäten herausgebildet, der Bundesbürger und der sozialistische Mensch.

Welcher tiefgreifende Bewußtseinswandel dem im Westen vorangegangen war, belegen einige eindrucksvolle Umfragedaten, wie sie Robert Gerwarth in seiner Studie über den „Bismarck-Mythos“ (München 2007) heranzieht. 1955 hielt noch beinahe die Hälfte der Westdeutschen das Bismarckreich von 1871 für die „glücklichste Periode der deutschen Geschichte“, während nur kümmerliche zwei Prozent meinten, Deutschland sei nie besser regiert worden als unter Konrad Adenauer. Dem „Kanzler der Alliierten“ (Kurt Schumacher) billigten darum auch nur drei Prozent der Befragten den Rang des „größten Deutschen“ zu. Die unangefochtene Spitzenposition nahm dagegen Bismarck mit 32 Prozent ein, weit vor Adolf Hitler (neun) und Friedrich dem Großen (sieben). Mit dem „Wirtschaftswunder“ verschoben sich jedoch die Präferenzen. 1967 sahen lediglich 17 Prozent in Bismarck, aber 60 Prozent in Adenauer den „größten Deutschen“. Die geschichtspolitische Zäsur, die sich in dieser Umwertung spiegelt, war in der Tat, wie Gerwarth pointiert urteilt, „gravierend“. Erstmals in der Geschichte des deutschen Nationalstaates „wurde Bismarck nicht mehr mit einer politischen Ordnung identifiziert, nach der eine Mehrheit der Deutschen strebte“. Bismarck habe um 1970 „endgültig aufgehört, ein politisches Vorbild für die Bundesrepublik Deutschland zu sein“.

Auf dieses Klingelzeichen prompt reagierend, hielt Bundespräsident Gustav Heinemann (SPD) zum 100. Jahrestag der Kaiserproklamation am 18. Januar 1971 dem Bismarckreich die Grabrede. Der äußeren Einheit habe nämlich die innere Freiheit gefehlt, und von Bismarcks Machtstaat führe zudem eine gerade Linie zu Adolf Hitler, zu „Auschwitz, Stalingrad und der bedingungslosen Kapitulation“ vom 8. Mai 1945. Deswegen gehöre Bismarck keinesfalls in die „schwarz-rot-goldene Ahnengalerie“. Mit einem alle bundesdeutschen Pennäler mobilisierenden Geschichtswettwerb wollte Heinemann dann eine neue Generation für ebendiese „freiheitliche“ à la carte ausgewählte, von Geschichtsklitterung kaum zu unterscheidende „Tradition“ begeistern.

Die westdeutsche Historikerzunft, allen voran ihr Doyen, der geschmeidige Theodor Schieder, der noch im Juli 1944 in Königsberg eine beflissen regimekonforme Bismarckdeutung vortrug, und das Gros angelsächsischen Umerziehungsprojekten entsprossener Politikwissenschaftler mit ihrem nach 1945 in den USA erzogenen Wortführer Karl-Dietrich Bracher an der Spitze, salvierten diese Kehrtwende und zeigten sich beglückt über das „Scheitern der Reichskonzeption von 1871“.

Ihre 1971 in der Zeit veröffentlichten geschichtspolitischen Interventionen signalisierten folglich die durch „1968“ angestachelte, zunehmende Bereitschaft deutscher Intellektueller, das Wilhelminische Reich als „Zukunftsmodell für Deutschland“ abzulehnen. Schieders Schüler Hans-Ulrich Wehler durfte 1973 Heinemanns ahistorische Skizze schließlich zu einem blauen Bändchen mit dem Titel „Das Deutsche Kaiserreich 1871–1918“ aufplustern, das, phantastische Auflagen erreichend, bis heute das Zerrbild vom „Sonderweg“ eines autoritären, aggressiven, von einer vormodernen preußischen Junkerkaste beherrschten Zombie-Staates prägt, obwohl es Wehler-Kritiker früh als billige Kompilation aus der Anti-„Hunnen“-Propaganda der Entente und den KPD-Tiraden über Bismarck, den „Bluthund der Hohenzollern“, verspotteten.

Der „Eiserne Kanzler“ schien in den Achtzigern also unumkehrbar im Reservat lupenrein antiquarischer Historiographie gelandet zu sein. Auch die überaus wohlwollende, im Umfeld des letzten geschichtspolitischen, Luther, Friedrich den Großen und Bismarck rehabilitierenden und zum „fortschrittlichen Erbe“ der DDR schlagenden Ost-Berliner Kurswechsels entstandene Biographie des Marxisten Ernst Engelberg (1985/90) über den „Urpreußen und Reichsgründer“ änderte an dieser Panoptikum-Existenz nichts.

Warnung vor Wiederkehr des Bismarckreiches

Eine märchenhafte Wende schien sich allerdings im Wunderjahr 1989 anzubahnen. Kein Geringerer als Alfred Herrhausen, Vorstandssprecher der Deutschen Bank und Zögling einer elitären Nationalpolitischen Erziehungsanstalt des Dritten Reiches, forderte Ende Oktober 1989, die zerbröselnde DDR vor Augen, eine Neubestimmung nationaler Identität, die alle Chancen habe, an die „Bismarckzeit“ anzuknüpfen, ja, so wörtlich, sie wieder „zu erleben“. Vier Wochen später fiel Herrhausen einem bis heute nicht aufgeklärten Bombenattentat zum Opfer. Seine Vision, von wenigen aus der Resignation erwachten deutschen Dissidenten der Flakhelfer-Generation, die der „Zusammenbruch 1945 und die Reeducation kaum gestreift“ (Peter Glotz) hatten, aufgegriffen, lieferte hysterischen Feuilletonisten und Historikern jahrelang Munition, um vor dem Wiedererstarken der deutschen Rechten und der Rückkehr des Reiches in Mitteleuropa zu warnen.

Viel Lärm um nichts, wie der Zeit-Mitherausgeber, altgediente DDR-Apologet und „Zwei-Staatler“ Theo Sommer zu Bismarcks 100. Todestag 1998 erleichtert resümierte. Denn nur fragmentarisch blieben über 1990 hinaus Kontinuitäten bewahrt – wie das 1871 stammestümliche Verkautzungen ersetzende, gesamtdeutsche politische Bewußtsein oder die sozialstaatliche Tradition. Alles Weitere, selbst und vor allem das gemeinsame Erbe von Schwarz-Weiß-Rot und Schwarz-Rot-Gold, der Wille zu nationaler Selbstbestimmung und Selbstbehauptung, kam unter die auf Selbstauflösung eingestellten Räder von „Europa und Einwanderung“.

Insoweit endet Robert Gerwarths Gang durch die Geschichte des Bismarck-Mythos in der Gegenwart mit dem lapidaren Fazit: Die um die DDR erweiterte BRD sei der Bruch, nicht die Fortsetzung des Bismarckreiches.

 

Otto von Bismarck (1815–1898)

1. April 1815

Otto von Bismarck wird im altmärkischen Schönhausen geboren, wächst aber auf Gut Kniephof im hinterpommerschen Naugard auf

1827 bis 1835

Nach Absolvierung des Gymnasiums in Berlin Studium der Rechtswissenschaften in Göttingen (bis 1833) und in Berlin. Mensurbeflissene Mitgliedschaft (28 Partien) im Corps Hannovera Göttingen

1835 bis 1838

Nach dem Ersten Staatsexamen wechselnde Stellen als Referendar im preußischen Justiz- und Verwaltungsdienst in Berlin und Aachen

1838/1839

Militärzeit als Einjährig-Freiwilliger in Potsdam und Greifswald

1839 bis 1847

Übernahme der Verwaltung der väterlichen Güter in Pommern, nach dem Tod des Vates erfolgreiche Bewirtschaftung und Sanierung des hochverschuldeten Familiensitzes in der Altmark

1847

Bismarck wird als Nachrücker Abgeordneter im Preußischen Landtag, 1849 Wahl in die Zweite Kammer, ab 1854 in die Erste Kammer (Preuß. Herrenhaus)

1851

Ernennung zum Geheimen Legationsrat und preußischen Vertreter am Bundestag in Frankfurt am Main

1859 bis 1862

Diplomatischer Dienst als preußischer Gesandter in St. Petersburg und Paris

1862

Berufung als preußischer Ministerpräsident und Minister des Auswärtigen, geschickter diplomatischer Akteur während der „Einigungskriege“

1865

Erhebung in den Grafenstand, 1871 in den erblichen Fürstenstand

1867

Kanzler im Norddeutschen Bund

1871

Nach Gründung des Deutschen Reiches wird Bismarck Reichskanzler, er behält seine preußischen Ämter

1872 bis 1884

Innenpolitische Schwerpunkte werden der „Kulturkampf“, die Sozialgesetzgebung und das Verbot der SPD; außenpolitisch brilliert der polyglotte Bismarck auf der Berliner Konferenz (1878), Erwerb deutscher Kolonien

1890

Entlassung als Reichskanzler durch Kaiser Wilhelm II.

30. Juli 1898

Bismarck stirbt in Friedrichsruh

Foto: Bismarck-Denkmal in Hamburg mit Graffiti-Schmierereien: Nur fragmentarische Kontinuitäten

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