© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/15 / 27. März 2015

Alles verändert sich unaufhörlich
Im Geiste des französischen Enzyklopädisten Raymond Borremans: Peter Krügers Film „N – Der Wahn der Vernunft“ über Westafrika
Sebastian Hennig

Eine unglückliche Liebschaft treibt den Franzosen Raymond Borremans 1929 nach Afrika. 28 Jahre alt ist er damals. Als musikalischer Alleinunterhalter mit dem Banjo spielt er den europäischen Siedlern in West- und Äquatorial-Afrika auf. Von 1937 bis 1974 zieht er dann mit einem Wanderkino übers Land. Die Beobachtungen, die er währenddessen macht, nähren den Entschluß, eine Enzyklopädie über das französische Westafrika zu verfassen. Er saugt die mündliche Überlieferung in sich auf, wo er ihrer habhaft werden kann, und speist sie in ein umfängliches Karteikartensystem.

Der Zerfall der „Communauté française“ in die unabhängigen Staaten Elfenbeinküste, Senegal, Mali, Obervolta (Burkina Faso) und Guinea zerwirkt auch den Zusammenhang seines ausgebreiteten Fundus. Er beschränkt sich nun auf die Elfenbeinküste. 1986 findet er eine Verlegerin, die im Jahr darauf das bebilderte „Le grand dictionnaire encyclopédique de la Côte d’Ivoire“ herausgibt. 1987 kehrt er zum erstenmal wieder in die alte Heimat zurück. In Paris nimmt er den Preis der Akademie der Moralischen und Politischen Wissenschaften entgegen. Als er im Jahr darauf in Abidjan stirbt, ist die Enzyklopädie erst bis zum Buchstaben N fortgeschritten.

Hier läßt Peter Krüger seinen Film „N – Der Wahn der Vernunft“ beginnen. Der Sterbende liegt auf dem provisorischen Krankenhauslager und will sich nicht von seinem unvollständigen Werk trennen lassen. Kurz nach dem Begräbnis soll sich eine Frau auf sein Grab gestellt und den weißen Mann verflucht haben: „Weil du nie Dankbarkeit gezeigt hast, wird deine Seele keine Ruhe finden!“

Diesen Fluch der Ruhelosigkeit verbindet Krüger in seinem Film mit Borremans’ eigener Unruhe. Geflohen vor einer gescheiterten Beziehung zu einem Menschen, versucht dieser ein neues Verhältnis zu einem ganzen Land anzutreten. Dann zerfällt dieses in problematische Nationalstaaten. Gegen Ende des Films wird die innere Rastlosigkeit noch zur Unruhe eines Bürgerkriegs gesteigert.

Dialog zwischen dem Land und seinem Erforscher

Der Film wird zu einer anschaulichen Reise durch das Land in seinem heutigen Zustand. Es gibt zwar keine Handlung. Dafür erzeugt die ungewöhnliche Perspektive eine traumhafte Spannung, welche die Bilder überhöht. Den mehr nebenherströmenden als kommentierenden Text verfaßte der nigerianische Schriftsteller Ben Okri. Er wird vorgetragen von der ivorischen Sängerin Fatoumata Diawara und dem französischen Schauspieler Michael Lonsdale als ein Dialog zwischen dem Land und seinem Erforscher. Die schwarze Frau singt zuweilen, ein andermal mal belehrt sie: „Was du benennst, wirst du verlieren.“ Er besteht flehentlich darauf: „Benennen war mein Leben.“

Doch der Geist muß zur Kenntnis nehmen, daß nicht nur große Teile unbenannt geblieben sind, sondern das bereits Bezeichnete schon wieder zu zerfallen beginnt. Einem Brotbaum werden die Brettwurzeln durchtrennt. Er kracht zu Boden. Stupide Wohnviertel werden hochgezogen. Der Bauplan verzeichnet eine „Schule“, berücksichtigt aber auch einen „Heiligen Wald“.

Der Film hat etwas von einer großen Bildverwertungsmaßnahme. Zwischen reine Bildreportagen sind nachgestellte Szenen gefügt. Sie bezeichnen Wiederbegegnungen mit dem eigenen Leben, zum Beispiel als Musikant auf der Bahnstation von Bamako.

Im Schatten und Echo der Ereignisse wird ein unheimlicher Zusammenhang erkennbar, wenn auf der Route, auf welcher der Franzose einsam seiner Heimat entflohen ist, heute überfüllte Boote mit jungen Männern in entgegengesetzter Richtung verkehren.

1934 hatte Borremans sein Quartier endgültig im Hotel de France in der Hafenstadt Grand-Bassam bezogen. Er belegte dort nur ein Zimmer. Heute hat in dem heruntergekommenen Gebäude die Stiftung ihren Sitz, die seinen Namen trägt. Da ist auch der alte Gefährte von Borremans zu sehen, wie er immer noch an dieselbe Stelle des Flusses zum Angeln geht. Die Bände der Enzyklopädie werden unterdessen neben allerlei Haushaltskram und Souvenirs auf einem Straßenmarkt verramscht. „Die Leidenschaft für die Ordnung befördert das Chaos“, sagt die Frau.

Hexen mit furienhaften Tanzbewegungen

Der Film suggeriert eine Reinigung vom westlichen Wahn der äußeren Ordnung. Doch diese Vorstellung gehört selbst zu diesem Wahn. Der Entwürdigung der Registratur entspricht das nachfolgende Chaos. Erst werden Stapel von Personaldokumenten verteilt, dann folgen verwüstete Dörfer mit verbrannten Balken und verkohltem Papier.

Ein letztes Mal reiste der Regisseur 2011 ins Land und wurde zum Zeugen des Bürgerkriegs, der die Bewohner der Elfenbeinküste nach den Präsidentschaftswahlen erfaßte. Eine Frau sammelt die wenigen verbliebenen Habseligkeiten, schaufelt mit einem Topfdeckel etwas von der Asche ihres Hauses dazu, knotet das Tuch zusammen und setzt sich das Bündel auf den Kopf. An einem Kontrollpunkt zieht der Posten eine Nagelschiene auf Rädern quer über die Fahrbahn. Blauhelmsoldaten kontrollieren Derwische in groteskem Aufputz mit alten Flinten und auf Fahrrädern. Dokumente besitzen sie keine.

Zuletzt werden zur Bannung des Geistes drei weißbepuderte Hexen bestellt. Ihre furienhaften Tanzbewegungen werden mit Aufnahmen von einer rotierenden Druckmaschine zusammengeschnitten. In Gestalt einer Stabpuppe versöhnt sich der Irrgänger im Anblick des Ozeans mit dem Unausweichlichen. Regisseur Krüger meint zu dieser Botschaft: „Ich hoffe auf eine kathartische Wirkung des Films, wie sie auch Borremans erlebt, als er erkennt, daß sich alles unaufhörlich verändert und nichts jemals abgeschlossen ist, weder im Guten noch im Bösen.“

Was wir sehen, ist eher eine Überlagerung von Wellen, die zur Verstärkung oder zur Auslöschung von Bewegung führen kann. Von Afrika lernen heißt, sich der Resignation zu ergeben. Schwingen wir uns darauf ein.

Kinostart: 26. März 2015

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