© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/15 / 27. März 2015

Thalers Streifzüge
Thorsten Thaler

Von einer Loge des Wiener Hof-Operntheaters aus hörten Richard und Cosima Wagner Anfang November 1875 Verdis Requiem, dirigiert von Hans Richter. Hernach notierte Cosima in ihrem Tagebuch, es sei ein Werk, „worüber nicht zu sprechen entschieden das beste ist“. Für Johannes Brahms dagegen war klar, „so etwas kann nur ein Genie schreiben“. Diese zeitgenössischen Divergenzen sind lange entschieden. Die von Giuseppe Verdi für den italienischen Nationaldichter Alessandro Manzoni komponierte Totenmesse oder auch „Oper im Kirchengewande“ (Hans von Bülow) steht ständig auf vielen Konzertspielplänen landauf, landab. In Berlin habe ich es in den vergangenen Jahren vier-, fünfmal gehört, zuletzt vorigen Donnerstag in der Philharmonie unter der Leitung von Enoch zu Guttenberg.

Die Kleidungssitten für Besucher von klassischen Konzerten oder Opernaufführungen mögen heute lockere sein, Turnschuhe sollten aber in jedem Fall verpönt sein.

Nicht entschieden bis heute ist der Disput über die Frage, wie Verdis Requiem angemessen aufzuführen ist: wuchtig-theatralisch oder eher schlank, als Kirchenmusik oder opernhaft, sakral oder profan? Enoch zu Guttenberg (68), das von ihm geführte Orchester der KlangVerwaltung sowie die von dem Dirigenten 1967 gegründete und bis heute geleitete Chorgemeinschaft Neubeuern bieten eine sehr nuancierte, zurückgenommene Interpretation. Guttenberg verzichtet auf jede Effekthascherei. Selbst die „Klangexplosion“ im „Dies irae“ kommt als eine „kontrolliert herbeigeführte“ daher, wie der Berliner Tagesspiegel zustimmend feststellte. Nun, das mag Geschmackssache sein. Für mein Empfinden fehlte es gerade in dieser Passage sowohl dem Orchester als auch dem Chor doch merklich an Raumvolumen.

Erst zu Hause lese ich in dem Programmheft des Konzertveranstalters First Classics Berlin ebenfalls von dem Vorwurf der Opernhaftigkeit des Verdi-Requiems – und der Empfehlung, sich statt auf diesen Gelehrtenstreit lieber auf die musikdramatischen Chiffren von überzeitlicher und überkonfessioneller Gültigkeit einzulassen. Das nun war an diesem Abend leichter gewollt als getan. Die goldfarben glitzernden Treter meines Sitznachbarn lenkten von der Konzentration auf das Konzertgeschehen ebenso ab wie die Bewegungen, mit denen er seinen großen silbernen Totenkopfring mehrmals von der rechten auf die linke Hand und wieder zurück wandern ließ. Libera me.

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