© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/15 / 27. März 2015

„Von Bismarck kann man noch lernen“
Ist Otto von Bismarck für das Unglück der deutschen Geschichte verantwortlich? Ist er gescheitert? Hat er uns heute nichts mehr zu sagen? Nein, widerspricht sein Biograph, der Historiker Hans-Christof Kraus
Moritz Schwarz

Herr Professor Kraus, ist Otto von Bismarck der „Dämon der Deutschen“, wie etwa Johannes Willms meint?

Kraus: Diese Bezeichnung halte ich für grundsätzlich verfehlt.

Warum?

Kraus: Sie ist letztlich ein Produkt der Bismarck-Debatten der Jahre nach 1945, als man nach den langfristigen Ursachen der deutschen Katastrophe suchte, das heißt, sie ist also selbst historisch zu verstehen, sachlich aber in jedem Fall unangemessen.

Hat Otto von Bismarck „Deutschland in die Scheiße geritten“, wie Dietrich Schwanitz schreibt?

Kraus: Da erübrigt sich wohl jeder Kommentar – eine solche Formulierung disqualifiziert sich selbst.

Führt eine Linie von Otto von Bismarck zu Hitler, wie zum Beispiel Karl Barth meinte?

Kraus: Sicher nicht. Die Politik Bismarcks und die Hitlers haben sich nach Formen, Zielen und Inhalten vollkommen unterschieden. Bismarck war zum Beispiel ein sehr vorsichtiger Politiker, der immer Alternativen im Blick behielt, Kriege nur dann riskierte, wenn sie aus seiner Sicht nicht zu vermeiden waren, und der dann auch möglichst schnell Frieden schloß. Zudem war Bismarck Anhänger einer konstitutionellen Monarchie, das heißt einer – wenn auch begrenzten – Mitwirkung des Volkes an der Politik. Er wollte tatsächlich, wenigstens zuerst, einen starken Reichstag und führte schon 1866 das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht ein.

Warum wird Bismarck immer wieder für das Mißlingen der deutschen Geschichte verantwortlich gemacht?

Kraus: Es bietet sich natürlich an, die deutsche Geschichte als Einbahnstraße von Bismarck zu Hitler zu zeichnen, wodurch sich eine bestimmte Generation von Historikern, vor allem die „Achtundsechziger“, von der vorherigen Historiker-Generation abzusetzen versuchte, die noch mehrheitlich ein positives Bismarck-Bild pflegte. Ich glaube aber nicht, daß sich heute noch diejenigen, die etwas von Bismarck und seiner Zeit verstehen, dieser Sicht anschließen können. Es ist im Grunde ein Generationenkonflikt, der hoffentlich bald aus biologischen Gründen erledigt sein wird.

Der Publizist Hans Hirzel meinte, jedes Volkstum brauche einen Nationalstaat, um zu überleben, und Bismarck habe den Deutschen den ihren gegeben.

Kraus: Die Schaffung des deutschen Nationalstaats, in dem wir ja bis heute leben, ist in der Tat Bismarcks bedeutendste Leistung. Durch die Reichseinigung hat er zum einen aus Bayern, Preußen, Sachsen, Mecklenburgern etc. Deutsche gemacht, und zum anderen schuf er starke Institutionen, die aus dem Zusammenschluß der deutschen Bundesstaaten – wie man damals sagte – einen nach innen und außen kompakten Staat geformt haben. Der dauerhafte Erfolg zeigt sich auch darin, daß dieses 1871 gegründete Reich später in der schweren Krise 1918/19 nicht auseinanderfiel, daß auch nach der Teilung durch die Sieger von 1945 immer die Wiedervereinigung angestrebt und daß am Ende, als nach 1989 die Gelegenheit dazu kam, die Einheit wie selbstverständlich wiederhergestellt wurde. Das ist in letzter Konsequenz Bismarcksches Erbe.

Warum war es im 19. Jahrhundert so wichtig, einen Nationalstaat zu erlangen?

Kraus: Um sich im internationalen Konkurrenzkampf zu behaupten. Die wirtschaftliche, politische und militärische Entwicklung drängte damals hin zum geschlossenen Nationalstaat mit funktionierenden Institutionen, und wer nicht mitziehen konnte, drohte abgehängt zu werden. Was nicht nur bedeutete, im internationalen Wettbewerb nicht mithalten zu können, sondern auch im schlimmeren Fall die Einmischung anderer Staaten in die eigenen inneren Angelegenheiten hinnehmen zu müssen – bis hin zur militärischen Intervention.

Ein Vorwurf lautet, Bismarck habe eine Konstruktion geschaffen, die nur er beherrschen konnte – was sich nach seinem Rücktritt als fatal erwiesen habe.

Kraus: Das ist sicher nicht falsch. Bismarck hat die Reichsverfassung in der Tat ganz auf seine Person, also auf den Reichskanzler, zugeschnitten. So gab es etwa keine Fachminister, sondern nur weisungsgebundene Staatssekretäre, auch fanden keine Kabinettssitzungen statt, wie man sie heute kennt. Und wenn obendrein der Kaiser schwach war, dann war der Kanzler derjenige, der die Politik fast allein bestimmte. Bismarck hat tatsächlich zuwenig daran gedacht, daß seine Nachfolger dieser schwierigen Aufgabe nicht wirklich gewachsen sein könnten. Das heißt aber durchaus nicht, daß sein Reich scheitern mußte. Die wichtige Verfassungsreform kam tatsächlich – aber eben erst im Herbst 1918, als der Krieg bereits verloren war. Und da war es schon zu spät. Wären diese Reformen früher erfolgt, hätte die Monarchie vielleicht gerettet werden können.

Warum hat Bismarck diesen Fehler begangen? Das verwundert, denn in anderen Belangen hat er viel Weitsicht bewiesen.

Kraus: Bismarck war ein sehr selbstbewußter Mensch, und nach den Erfolgen der Jahre 1864 bis 1871 ist bei ihm eine gewisse Selbstüberschätzung zu beobachten, die wohl dazu geführt hat, daß er diesem Problem in seinem Bestreben, alles an sich zu ziehen und direkt zu bestimmen, nicht die nötige Aufmerksamkeit geschenkt hat.

Sie kritisieren in Ihrem neuen Buch die Annexion Elsaß-Lothringens 1871. Warum hat Bismarck einen Fehler dieser Art gemacht, den er 1866 gegen Österreich ja noch zu verhindern wußte?

Kraus: Bismarck folgte hier der Auffassung der Militärs, die davon ausgingen, daß Frankreich künftig Deutschlands Dauerfeind sein werde. Elsaß-Lothringen sollte nach dieser Auffassung als Bollwerk zur Abwehr eines französischen Aufmarsches gegen Süddeutschland dienen. Tatsächlich hätten die Franzosen die Annektierung des überwiegend deutschsprachigen Elsaß vielleicht noch hingenommen, aber daß sie auch das ganz überwiegend französischsprachige Lothringen abgeben mußten, reizte ihre Revanchegelüste.

Rudolf Augstein meinte, auch ein Verzicht auf Elsaß-Lothringen hätte nichts genützt, denn die Franzosen hätten schon die Niederlage von 1871 nicht verziehen.

Kraus: Das glaube ich nicht. Die Franzosen waren in ihrer Mehrheit nach 1871 im Grunde Realisten geworden und wären wohl auch bereit gewesen, die Niederlage als solche zu akzeptieren – so wie sie einst die Niederlage von 1814/15 akzeptiert hatten. Doch die Abtrennung Elsaß-Lothringens leitete Wasser auf die Mühlen der Ultra-Nationalisten. Bismarck hat seinen Fehler später durchaus erkannt und versucht, doch noch mit Frankreich zu einem leidlich guten Verhältnis zu kommen, vergeblich. So blieb Frankreich bis 1914 – von kurzen Zwischenphasen der Entspannung einmal abgesehen – der konstante Gegner des Deutschen Reichs.

Sie weisen darauf hin, daß die Forderung nach einer Rückkehr des Elsaß zu Deutschland nicht abwegig war.

Kraus: Schon 1815, nach dem Sieg über Napoleon, hatten große Teile der deutschen Öffentlichkeit auf eine Rückkehr dieser alten deutschen Provinz gehofft – man wurde damals aber enttäuscht. Diese Haltung hat neben anderem mit der alten deutschen Kulturtradition des Elsaß zu tun. Diese Landschaft war ein Zentrum des deutschen Humanismus gewesen, Goethe hatte in Straßburg studiert, war hier Herder begegnet, wie jeder deutsche Gebildete wußte. Und endlich war auch der brutale Raub des Elsaß durch Ludwig XIV. im 17. Jahrhundert nicht vergessen. Dies alles spielte im damals sehr stark kulturell grundierten deutschen Nationalbewußtsein eine bedeutende Rolle.

Trotz dieses außenpolitischen Fehlers nannte Sebastian Haffner Bismarck den „größten Staatsmann“, und Rudolf Augstein meinte: „Wer den Staatsmann Bismarck nicht bewundert, hat kein Gefühl für Außenpolitik.“

Kraus: Bismarck war in der Tat, trotz mancher Fehler, so etwas wie ein „Held der Wirklichkeit“. An die Möglichkeit eines künftigen Weltfriedens glaubte er sicher nicht, sondern er rechnete auch und gerade in der Politik stets mit den Unwägbarkeiten und Unzulänglichkeiten der menschlichen Natur, wie sie nun einmal ist und bleiben wird. Die heutigen Deutschen, die von „Weltgesellschaft“, „Völkergemeinschaft“ und dergleichen träumen, können von Bismarck immer noch lernen, was Realpolitik eigentlich ist. Seine Memoiren, die „Gedanken und Erinnerungen“, sind in dieser Hinsicht, wie mir scheint, das beste politische Lehrbuch, das es gibt.

 

Prof. Dr. Hans-Christof Kraus, der Historiker ist Inhaber des Lehrstuhls für Neuere Geschichte an der Universität Passau. Unter den Neuerscheinungen zum 200jährigen Bismarck-Jubiläum ragt seine Biographie „Bismarck. Größe, Grenzen, Leistungen“, der es gelingt, die Aktualität des Kanzlers und Reichsgründers zu vermitteln, heraus. Geboren wurde Hans-Christof Kraus 1958 in Göttingen.

Foto: Bismarck-Nationaldenkmal in Berlin von Rheinhold Begas aus dem Jahr 1901: „Die Schaffung des deutschen Nationalstaats, in dem wir bis heute leben, ist seine bedeutendste Leistung“

 

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