© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/15 / 20. März 2015

Identität: notwendige Grundlage eigener und kollektiver Existenz
Das geheime Etwas
Karlheinz Weißmann

Wenn in Israel gefragt wird, was der Begriff „jüdisch“ in der Verfassung soll und zwischen Athen und Skopje der alte Streit um „Mazedonien“ entbrennt, wenn man im asiatischen Zwergstaat die Parole „Singapur den Singapurern!“ ausgibt und ein italienischer Trainer findet, daß in den besten Mannschaften des Landes zu viele Schwarze spielen, wenn ein Jeside aus Hannover zu den Peschmerga geht und für „Kurdistan“ kämpft und Putin „die russische Erde sammelt“, wenn die chinesische Führung Konfuzius rehabilitiert und Hindus gegen den Rindfleischimport aufmarschieren, wenn die Kinder von Einwanderern nicht mehr als solche, sondern als „Neue Deutsche“ gelten wollen, während andere den Dschihad nach Europa tragen, und wenn der Protest gegen die Islamisierung des Abendlandes auf die Straße kommt, dann handelt es sich im Kern immer um eins: um Fragen der Identität. Man mag auf andere – soziale, ökonomische, rechtliche – Problemlagen hinweisen, an der Tatsache ändert das nichts. Das Bedürfnis des Menschen nach Eindeutigkeit ist nicht zum Schweigen zu bringen, nicht einmal durch den Hinweis, daß es zuletzt unerfüllbar bleibt.

Wenn hier von „Identifizierung“ gesprochen wird, dann in einem anderen Sinn, als die Philosophie traditionell das Problem der „Identität“ behandelt hat. Das heißt, es geht nicht um Erkenntnistheorie, sondern um psychologische Aspekte in bezug auf ein „dauerndes inneres Sich-Selbst-Gleichsein“ (Erik H. Erikson), zuerst des Individuums, dann der Gruppe. Der dahinterstehende Wunsch ist uralt, das Interesse daran neueren Datums. Dramatische und dauernde Veränderungen der Lebenswelt haben den Menschen sicher auch in der Vergangenheit mit dem Problem konfrontiert, was ihn ausmacht und was die sozialen Verbände, denen er angehört, aber das Tempo des Wandels in den vergangenen beiden Jahrhunderten erschwert es außerordentlich, eine befriedigende Antwort zu finden.

Identität, so Jürgen Habermas‘ Behauptung, sei nur mehr durch Verabredung herstellbar. Die dahinterstehende Annahme ist aber nicht nur abwegig, sie dient auch der Täuschung. Denn der von Habermas postulierte „herrschaftsfreie Diskurs“ findet nicht statt.

Die Existenz in den modernen Gesellschaften weckt sogar Zweifel, ob es überhaupt so etwas wie eine Identität geben kann, wenn wir nicht nur verschiedene Phasen des Daseins, von der Kindheit über die Jugend und Reife bis zum Alter, durchlaufen, sondern außerdem die Milieus, von der Familie über die Glaubensgemeinschaft, den Verein, den Stand bis zum Volk, sich auflösen oder permanent verändern. Zuerst verliert das Selbst seine Umrisse in der Virtualität. Daraus folgt nicht nur die Möglichkeit, sich „neu zu erfinden“, sondern auch die, jeder Bindung an eine Gemeinschaft auszuweichen. Was bleibt, ist „Melange“. Auf den Begriff kam der Soziologe Ulrich Beck, und er begrüßte, daß die Menge der denkbaren Identifizierungen ununterbrochen wächst, Zugehörigkeiten sich überschneiden und ihren Ernst verlieren, so daß man der Entscheidung zwischen ihnen ausweichen und die Optionen in der Schwebe halten kann.

Beck sah darin vor allem eine Chance, weil dem einzelnen erlaubt werde, seinen Spielraum auszuweiten. Eine Vorstellung, die viele mit ihm teilen, zumindest im Westen, denen die Identifizierung mit einer Gemeinschaft entweder als langweilig, als gefährlich oder als anachronistisch erscheint. Jürgen Habermas hat die letzte Position seit langem und mit größtem Nachdruck vertreten: „Eine kollektive Identität können wir heute“, schrieb er schon 1973, „allenfalls in den formalen Bedingungen verankert sehen, unter denen Identitätsprojektionen erzeugt und verändert werden.“ Identität, so seine Behauptung, sei nur mehr durch Verabredung herstellbar, ein Prozeß, bei dem sich der einzelne am „Bildungs- und Willensbildungsprozeß einer gemeinsam erst zu entwerfenden Identität“ beteiligen könne.

Die dahinterstehende Annahme ist aber nicht nur abwegig, sie dient auch der Täuschung. Denn der von Habermas postulierte „herrschaftsfreie Diskurs“ findet nicht statt. Das weiß Habermas sehr genau, weshalb er seine eigene Behauptung auch niemals ernstgenommen hat, sondern jede konkrete Einflußnahme an der Regel orientierte, daß die Identität einer „ingroup“ (seine Anhänger, die Guten, Fortschrittlichen, Aufgeklärten, Westler) dadurch rigoros gestärkt werden kann, daß man eine „outgroup“ (seine Gegner, die Bösen, Reaktionäre, Gegenaufklärer, Deutschen) markiert und denunziert, die Geschlossenheit des eigenen Kollektivs sichert und Abweichler unschädlich macht. Das festzuhalten bedeutet nicht, einen inneren Widerspruch der von Habermas vertretenen Argumentation aufzuzeigen – Logik spielt für Identität nur eine relative Rolle –, sondern deutlich zu machen, daß auch die Verächter der Identitätspolitik gezwungen sind, sie zu treiben. Faktisch erscheint immer nur die Identität der Gegenseite „fiktiv“.

Der Hauptgrund dafür ist, daß wir „Stammestiere“ (Edward O. Wilson) sind. Das festzustellen, genügt aber nicht. Denn die Gruppenbindung kann schon aufgrund der Instinktschwäche des Menschen nie jene Selbstverständlichkeit erreichen, die die Zugehörigkeit einer Biene zu ihrem Stock oder eines Wolfs zu seinem Rudel hat. Das heißt, Identifizierung gehört zu unserem sozialen apriori, ist ein natürliches Bedürfnis unserer Art, aber die Richtung, die sie nimmt, kann von der Natur bloß angelegt, nicht fixiert werden. Deshalb finden sich universal zwar sehr ähnliche Sozialformen – Familie, Horde, Clan, Club, Stamm –, aber deren Gestaltung fällt unterschiedlich aus. Fest steht letztlich nur, daß die Identität der Gruppe „genauso ein notwendiges praktisches Postulat für das gesellschaftliche Zusammenleben“ ist „wie die Identität einer individuellen Person“ (Kurt Hübner).

Ihre Basis bildet die Scheidung zwischen „Wir“ und „Nicht-Wir“, zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Auch die ist tief in der Biologie verankert. Zu den Besonderheiten unserer Spezies gehört allerdings, daß die grundsätzliche Aversion je länger je mehr kulturell überformt wird. Trotzdem bleibt der Schritt von „fremd“ zu „feindlich“ kurz. Das lateinische „hostis“ läßt auf einen indogermanischen Terminus „ghosti-s“ schließen, der für den Fremden stand.

Die Ablehnung des Fremden hat auch mit dem ausgeprägten Selbstgefühl aller ursprünglichen Sozialformen zu tun. Die kommt unüberbietbar in der Eigenbezeichnung „Mensch“ zum Ausdruck, wie im Fall der Yamana auf Feuerland, der Ainu in Japan, der Eskimos, sehr vieler amerikanischer Indianerstämme und der Khoikhoi im südwestlichen Afrika. Bekannter sind die allerdings unter „Hottentotten“, ein Name, den ihnen die Buren gaben und der soviel wie „Stotterer“ bedeutet, ähnlich dem „barbaros“, mit dem die antiken Griechen alle Fremden belegten, die keiner Sprache, jedenfalls keiner, die Menschen sprachen, mächtig waren. Erst im Lauf der Zeit hat diese Herabsetzung an Schärfe verloren; was aber blieb, war die Idee der eigenen Vorzüglichkeit, ganz gleich, ob sie in der Rede des Perikles zum Ausdruck kam, als er die Vaterlandsliebe, Freiheit und Gleichheit der Athener feierte, im Stolz der Römer auf ihre Tugenden, in Luthers Appell an seine „lieben Teutschen“ oder in der Ansprache eines britischen Kommandeurs vor Beginn der Bodenoffensive im Golfkrieg, die mit dem berühmten Gedicht „If“ von Rudyard Kipling endete, das die kriegerischen Tugenden beschwört und dessen letzte Verse lauten: „Dann wird euch die Erde gehören und alles, was darauf lebt, / Und, was mehr bedeutet, ihr werdet Männer sein.“

Der Unterschied zum lockerroom pep talk in der Kabine der Fußballmannschaft oder zu den Worten, die der Manager findet, um die Belegschaft zu motivieren, des Aktivisten von Greenpeace, der seine Leute anspornt, um in halsbrecherischer Aktion das Schiff der Walfänger zu stoppen, ist ein gradueller. Es geht immer um das, was Max Weber „spezifisches Pathos“ nannte, eine bestimmte Art und Weise, in der die Hochschätzung der eigenen Gemeinschaft zum Ausdruck gebracht wird. Daher die in allen menschlichen Gruppen vorkommenden Erzählungen, Riten und Bräuche, Symbole und Erinnerungsstätten, die dieses Pathos erneuern und am Leben halten sollen, denn die Vorstellung vom eigenen Wert des menschlichen Individuums wie der menschlichen Verbände hängt ganz wesentlich damit zusammen, daß sie „zur Kontinuität verurteilt“ (Odo Marquard) sind: das „Ich“ war seit je, ist heute und wird in Zukunft sein, und das „Wir“ war seit je, ist heute und wird in Zukunft sein.

Über die außerordentliche Bedeutung eines derartigen Gemein-, Korps-, Volks- oder Nationalgeistes war man sich auch schon im klaren, bevor der Begriff Identität seine Karriere begann. Man wußte seit je, daß die Vielen nur dann eine Einheit bilden, wenn der Zusammenhang nicht oder nicht in erster Linie auf Zwang beruht, sondern auf der Menge geteilter Empfindungen, Überzeugungen und Einstellungen. Das gilt auf dem Feld des Politischen stärker als auf jedem anderen, weil es hier um die Identität der ausschlaggebenden Gruppe geht, mithin „die Grundlage der eigenen wirklichen Existenz“ (Bernard Willms). Daß der einzelne auch anderen Zusammenschlüssen angehört, die ebenfalls Ansprüche stellen, ist dabei von untergeordneter Bedeutung. In erster Linie handelt es sich um das, was Leopold von Ranke meinte, als er festhielt, daß das Vaterland „mit uns, in uns“ sei: „wir stellen es dar, mögen wir wollen oder nicht (…) Wir beruhen darauf von Anfang an und können uns nicht emanzipieren. Dieses geheime Etwas, das den Geringsten erfüllt wie den Vornehmsten – diese geistige Luft, die wir aus- und einatmen –, geht aller Verfassung vorher, belebt und erfüllt alle Formen.“

Zwanzig Jahre lang gab man sich der Illusion hin, daß Wirtschaft unser Schicksal sei und Verteilungskämpfe bestenfalls um Marktanteile und Konsummöglichkeiten gehen. Jetzt erkennen wir, daß es noch andere knappe Güter gibt: Identität ist eins davon.

Das „geheime Etwas“ hat allerdings keine garantierte Existenz. Es kann seine Träger oder seine Überzeugungskraft verlieren, es kann verwahrlosen und verlöschen. Die tonangebenden Kreise der westlichen Gesellschaften haben viel dafür getan, um dieses Ziel in bezug auf die kulturelle, religiöse und nationale Identität des weißen Mannes zu erreichen, und mancher sähe es gerne, wenn der „stinkende Begriff“ (Peter Köhler) Identität ganz verschwindet. Besonnenere warnen dagegen vor den sich abzeichnenden Fragmentierungen und dem Zerfall des Zusammenhalts und beschwören den guten Willen der Nicht­identischen, wenn man ihnen nur „eine positive Identität“ (Raed Saleh) anbiete. Auch das sind Symptome für ein Ende jener Ruhephase, in die die Geschichte eingetreten schien, als die Nachwehen von 1989ff. abklangen. Zwanzig Jahre lang gab man sich der Illusion hin, daß Wirtschaft unser Schicksal sei und Verteilungskämpfe bestenfalls um Marktanteile und Konsummöglichkeiten gehen. Jetzt muß man erkennen, daß es noch andere knappe Güter gibt: Identität ist eins davon.

In seinem Roman „Kapital“ schildert John Lanchester, wie eine der Hauptfiguren, Petunia Howe, eine alte Dame aus der Londoner Vorstadt, in einer Arztpraxis auf ihre Behandlung wartet. Die Protagonistin nimmt währenddessen die Umgebung genauer in Augenschein. Es sind da Menschen mit Namen wie „Linda Wong“, „Danton Mataratu“, „Shonua Barkschir“, „Te Khan“, „Cosmo Dent“, Asiaten, Afrikaner und Osteuropäer. Sie tragen Kleider aus Elastan oder T-Shirts, bauchfreie Tops, Kopftücher oder einen den ganzen Körper verhüllenden Hidschab, hören abgeschottet Musik aus Kopfhörern, starren auf ihre Smartphones, schreiben SMS oder reden in fremden Sprachen. Die Situation ist im Grunde ganz unspektakulär und jedem bekannt, der in einer europäischen oder nordamerikanischen oder australischen Großstadt lebt. Aber Petunia Howe bleibt irritiert: „Wir müssen alle zusammenhalten. Petunia gehörte noch der Generation an, für die das einmal ein sehr wichtiger Grundsatz gewesen war. Ein Satz, der genau definierte, was es bedeutete, ein Brite zu sein.“ Von der Bedeutsamkeit des Zusammenhaltens ist sie immer noch überzeugt, aber auf die stumm gestellte Frage „Hielten sie noch alle zusammen?“ bekommt der Leser keine Antwort, denn „Petuna Ho“ wird aufgerufen und geht in das Sprechzimmer von Dr. Cansecca.

 

Dr. Karlheinz Weißmann, Jahrgang 1959, ist Gymnasiallehrer, Publizist und Buchautor. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über den europaweit zu beobachtenden Aufbruch im Parteiensystem („Die Geduld hat ein Ende“, JF 24/14).

Foto: Bürger auf einer Pegida-Demonstration in Berlin Mitte Januar: Neues Interesse an einem uralten Wunsch

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