© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/15 / 20. März 2015

Der Bankrott wird verschleiert
Parlamentarismus: Das politische System in Deutschland krankt an einer Legitimationskrise
Thorsten Hinz

Die Sternstunde des deutschen Parlamentarismus fiel am 27. Februar wieder einmal aus. Erneut geriet die Bundestagsdebatte über die Griechenland-Hilfe zum Offenbarungseid: Am Ende votierten 542 Abgeordnete mit Ja, 32 mit Nein, 13 enthielten sich. Die Zustimmungsquote lag bei 92,33 Prozent. Nur die DDR-Volkskammer war besser.

Das Ergebnis war vorhersehbar, der Ablauf aus früheren Jahren bekannt. Die hektischen Sitzungen, die aufgeregten Wortmeldungen aus Fraktionen und Landesgruppen, die eilig anberaumten Konferenzen mit übernächtigten Ministern waren Kulissenschieberei und Theaterdonner. Dem Publikum wurde eine politische Entscheidungsmacht vorgetäuscht, die es längst nicht mehr gibt. Niemand soll wissen, daß die Abgeordneten effektiv funktionslos sind und selbst die Bundesregierung wenig bis gar nichts zu sagen hat. In der Debatte ging es um Austerität versus Solidarität oder um deren Kombination. Einige wenige Abgeordnete wagten immerhin, den Grexit ins Spiel zu bringen.

Das Grundsätzliche aber wurde ausgespart: Die politische Klasse ist zum Gefangenen ihrer Fehlentscheidung zur Euro-Einheitswährung geworden. Um den Bankrott zu verschleiern, kreisen ihre Debatten um zweit- und drittrangige Details. Zudem werden die währungs-, finanz- und europapolitischen Zwänge von geopolitischen Motiven überlagert. Die Mahnungen aus Washington waren eindeutig. Griechenland soll in der Eurozone gehalten werden, damit es nicht aus der antirussischen Front ausschert und die Südostflanke der Nato destabilisiert. Davon ist im Bundestag überhaupt nicht die Rede gewesen.

Von einer parlamentarischen Kontrolle der Exekutive, von einem substantiellen Beitrag des Bundestags zur politischen Willens- und Meinungsbildung kann keine Rede sein. Die Opposition besteht aus ganzen vier Abgeordneten: aus der klugen Sahra Wagenknecht und dem Polemiker Gregor Gysi von der Linkspartei; aus dem CDU-Abgeordneten Wolfgang Bosbach, der in Talkshows dem gesunden Menschenverstand wenigstens ein Stimmchen gibt, sowie dem grantelnden Peter Gauweiler von der CSU. Doch sie ersetzen kein lebendiges Parlament. Zudem geben Wagenknecht und Gysi aus ideologischer Befangenheit auf richtige Fragen die falschen Antworten, während Bosbach und Gauweiler Parteisoldaten bleiben und Anzeichen von Resignation erkennen lassen.

Die Griechenland-Hilfe unterliegt wenigstens einer formalen Entscheidung des Bundestages. Andere wichtige Fragen – die Übergriffe der Bürokratie, das transatlantische Handelsabkommen, die Energiewende und der Dämmwahn, der Islamismus und vor allem die Zuwanderung, die die Bürger berühren und aufregen – werden gar nicht erst thematisiert. Ist eine so verstandene Demokratie noch repräsentativ und das Geld der Bürger weiter wert?

Bundespräsident Joachim Gauck hat daran keinen Zweifel. Vorige Woche schrieb er in einem Beitrag für die Zeit, zwar seien Bürgerinitiativen näher am Alltag und sensibler für die Veränderungen als Politiker, doch es bedürfe „der Parteien, um Einzelphänomene mit dem großen Ganzen in Beziehung zu setzen und widerstreitende Interessen in Politik zu überführen“. Er begründet das mit den ersten und einzigen freien Volkskammerwahlen im März 1990 in der DDR: „Wir waren freie Bürger, frei zur Entscheidung, welchen Personen und Parteien wir dieses Land anvertrauen wollten.“

Wenigstens hat Gauck ein Gespür für die Legitimationskrise, an der das politische System krankt und die sich in der Entstehung neuer Bürgerbewegungen manifestiert. Doch wie stets, wenn er die Wende-Erfahrung von 1989 zur Legitimation des Status quo heranzieht, kommt der Bundespräsident als Mischwesen aus pastoralem Märchenonkel und dauerbeglückter Goldmarie daher. Der 1990er Wahlkampf war vor allem eine Materialschlacht der westdeutschen Mutterparteien und wurde entlang ihrer Frontlinien entschieden. Abgesehen vom D-Mark-Versprechen, wurde er in einer Terminologie geführt, die mit den speziellen Interessen und Erfahrungen der DDR-Bürger wenig zu tun hatte. Mit dieser Wahl ging die gerade errungene Freiheit und Souveränität in eine neue politische Entfremdung über, die inzwischen auf die alten Bundesländer übergegriffen hat. Wer diese Fakten und Zusammenhänge nicht wahrhaben will, dem bleibt – wie eben Gauck – nur die sentimentale Feststellung, die grassierende Gleichgültigkeit gegenüber den Formalien der Demokratie tue ihm „weh“.

Wie sollen Parteien und Politiker, welche die Einzelphänomene der Lebenswirklichkeit konsequent ignorieren, diese mit einem „großen Ganzen in Beziehung“ setzen können, das sich ihrem Vokabular entzieht und häufig über ihrem Kenntnisstand und Reflexionsniveau liegt? Besonders deutlich wird das Versagen in der Frage der Zuwanderung, die die Lebenswelt der Einheimischen ungefragt umwälzt und ihre Freiheit und Selbstbestimmung immer weiter einschränkt. Aus den Parteien, dem Parlament und der Regierung ist wenig mehr zu hören als die Aufforderungen, eine bessere „Willkommenskultur“ zu entwickeln. Der Bürger soll seine Fremdbestimmung zum persönlichen Anliegen machen. Es ist egal, welche Partei man wählt, weil ein parteiübergreifendes, oligarchisches Eigeninteresse existiert, anderslautenden Meinungen und Interessen jede Repräsentanz zu verweigern. Das führt so weit, daß die politische Klasse, um unwidersprochen zu bleiben, den Widerspruch gegen ihr Handeln als undemokratisch stigmatisiert.

Die Gründe dafür werden meist im subjektiven Versagen beziehungsweise dem Niveauverlust der Politiker oder in der Überformung der nationalen Institutionen durch supranationale Organisationen gesucht. Der Wirtschaftswissenschaftler und politische Theoretiker Hans-Hermann Hoppe geht in dem Buch „Demokratie. Der Gott, der keiner ist“ noch weiter. Er sieht ein Strukturproblem, das in der Demokratie selber liegt.

Mit Blick auf die Zuwanderung hat er einen provokanten Vergleich angestellt: Ein König, der den Kapitalwert seines Landes besitzt, würde die Migrationspolitik daran ausrichten, daß sie „den Wert seines Königreiches erhält oder erhöht, statt ihn zu senken“. Einem demokratischen Herrscher hingegen, der den Kapitalwert lediglich kurzfristig verwaltet und den vor allem seine Wiederwahl interessiert, ist „der Gammler, der am ehesten für egalitäre Maßnahmen stimmen wird, möglicherweise wertvoller als das produktive Genie, das als erstes Opfer des Egalitarismus eher gegen den demokratischen Herrscher stimmen wird“.

Erst solche illusionslosen Analysen geben eine Ahnung von der Härte und Komplexität der Konflikte, die längst begonnen haben.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen