© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/15 / 13. März 2015

Abweichung als Norm
Ohne Praxisbezug und wissenschaftlich fragwürdig: Die Publizistin Birgit Kelle über Irrungen und Wirrungen des Gender Mainstreaming
Thorsten Hinz

Das neue Buch von Birgit Kelle möchte man nach jeder gelesenen Seite am liebsten zuklappen. Nicht weil es belanglos oder schlecht geschrieben wäre – ganz im Gegenteil. Die Publizistin, die gegen den traditionellen Feminismus, gegen Quoten und Gender Mainstreaming streitet, äußert sich pointiert und wohlinformiert. Und genau da liegt der Hase im Pfeffer: Der grassierende Gender-Wahnsinn, den sie Seite für Seite auflistet, ist schwer zu ertragen. Doch um die Lage zu erkennen, muß man die nötige Selbstdisziplin dafür aufbringen.

Für die Gender-Aktivistinnen – vor allem handelt es sich um Frauen – ist das Geschlecht nichts Natürliches, sondern ein soziales Konstrukt, das dem Individuum durch die hetero-normative und patriarchalische Gesellschaft aufgezwungen wurde. Die Menschen sollen aus den autoritären Strukturen und traditionellen Rollenverständnissen befreit werden. Das Problem ist, daß diese überwiegend zufrieden mit der Geschlechterpolarität sind. Selbst die lesbische Frau und der homosexuelle Mann wollen keineswegs, daß die Weiblichkeit bzw. die Männlichkeit sich verflüchtigen.

Deshalb müssen sie mit immer neuen Vorschriften zu ihrem Glück gezwungen werden: Den Kampf gegen das Ampelmännchen, das frauenfeindliche „Milchmädchen“ und die „Heulsuse“ mag man belächeln. Doch spätestens wenn Studenten angehalten werden, ihre Seminararbeiten in „gendergerechter Sprache“ abzufassen und an der Leipziger Universität sämtliche Professoren – die meisten sind nun mal Männer – als „Professorin“ angeredet werden müssen, sollte klar sein, daß ein Krieg gegen die Köpfe stattfindet, der darauf abzielt, die Gesellschaft zu durchdringen und zu revolutionieren.

Am heftigsten tobt er gegen Kinderköpfe. In Baden-Württemberg werden beim Thema „sexuelle Vielfalt“ gleich sechs LSBTTI-Geschlechter behandelt, nämlich: „Lesbisch-Schwul-Bisexuell-Transsexuell-Transgender-Intersexuell“. Nun gibt es tatsächlich neben der Heterosexualität weitere sexuelle Empfindungen, die Anspruch auf gesellschaftliche Toleranz haben. Das ist längst akzeptiert. Inzwischen geht es darum, die Norm selbst zu bestreiten und abzuschaffen. Schon das halbe Dutzend LSBTTI-Geschlechter ist hoffnungslos altmodisch. Inzwischen sind alle Menschen angeblich „queer“, abweichend. Die Abweichung ist die einzige Norm!

Auf der Eröffnungsfeier des mit Unisex-Toiletten ausgestatteten EKD-„Studienzentrums für Genderfragen in Kirche und Theologie“ 2014 in Hannover erfuhr die Autorin, daß bereits 4.000 Geschlechter existieren, allesamt „wissenschaftlich“ begründet. Als die Autorin fragte, „ob die Kernaufgabe einer christlichen Kirche nicht die Verkündigung der Frohen Botschaft sein sollte, statt daß man sich als verlängerter Arm universitärer Genderlehrstühle bestätigte und Klotüren zusammenlegt“, löste sie einen Eklat aus.

Mit der Leiterin Claudia Janssen – laut Selbstauskunft eine „lesbisch lebende Vikarin“ – führte sie ein Streitgespräch, das man im Internet nachlesen kann. Die Professorin wußte am Ende kein anderes Argument, als daß Kelle den „rechten Rand“ bediene und sich dafür „erklären“ müsse. Das fand die nun überhaupt nicht und brach das Gespräch, das keines mehr war, vernünftigerweise ab.

Die 4.000 Geschlechter sind vergleichsweise moderat geschätzt. Die Magnus-Hirschfeld-Stiftung, die vom Bund mit zehn Millionen Euro ausgestattet wurde, wirft exakt 43.046.721 unterschiedliche Sexualtypen in die Debatte. (In der Druckfassung auf Seite 154 fehlt die Null, vermutlich hatte die Computertastatur der Autorin kurzzeitig die Fassung verloren.)

Kelle, Ehefrau, Mutter von vier Kindern, räumt ein, einen Augenblick im Zweifel gewesen zu sein, ob nicht etwas dran sei am genderistischen Konstrukt-Konstrukt. Sie wagte die Probe aufs Exempel und machte ihren beiden Ältesten hinsichtlich ihrer Farbvorlieben und des Spielzeugs keinerlei geschlechtsspezifische Vorgaben. Das Ergebnis war eindeutig: Die Tochter verfiel ganz von selbst dem schrecklichen Zauber von Glitzer, Pink und Rosa, wünschte sich Barbies und zur Einschulung einen pinkfarbenen Ranzen. Was sie nicht daran gehindert hat, in der Schule erfolgreich zu sein.

Der jüngere Bruder mochte sich mit ihren Puppen und Kuscheltieren partout nicht anfreunden und lebte erst auf, als die Eltern ihm eine Holzeisenbahn und Matchbox-Autos kauften – Jungenspielzeug eben. Die jüngste, sechsjährige Tochter gibt als aktuellen Berufswunsch – Königin an. Mutter Kelle erblickt darin keine gendermäßig zu therapierende Veirrung, sondern vertraut darauf, daß der Kleine-Mädchen-Traum im Laufe der Zeit ausgeträumt wird.

Die Autorin hat damit indirekt auf ein Defizit der meisten Gender-Theoretikerinnen hingewiesen: Es fehlt ihnen der Praxisbezug, die Erfahrung mit Kindern, Familie, mit Mutterschaft, mit dem Glück, Elternliebe zu spenden.

Vor allem aber ist der „Gender-Gaga“ ein Mittel, um Einfluß, Geld und Posten zu erlangen. In Norwegen, wo eine gesetzliche Frauenquote für Vorstands-etagen vorgeschrieben ist, kursiert der Begriff „Goldröcke“. Er spielt darauf an, daß sich nicht genügend kompetente Frauen für die zu vergebenden Posten finden. Also tanzen die wenigen auf mehreren Hochzeiten gleichzeitig und vergolden sich ihre Röcke beziehungsweise Bankkonten. Was bei Männern als Ämterhäufung kritisiert wird, gilt hier als „emanzipatorischer Akt“.

Frauen sind nun mal keine besseren Menschen. „Eiskalt, risikofreudig, machtbewußt und mit dem Kopf durch die Wand: So hat sich Frau von der Leyen in der Frauenquotenfrage in ihrer Partei durchgesetzt.“ Damit habe sie alle Attribute des „typisch-aggressiv-männlichen Potenzgebarens“ nachgewiesen.

Wie konnte es dazu kommen, daß sich eine offensichtlich abstruse Idee zu einer massenwahnartigen Erscheinung und gesellschaftspolitischen Kraft auswuchs? Welche Kräfte und Energien stehen dahinter? Auf eine Antwort in Birgit Kelles nächstem Buch darf man gespannt sein.

Birgit Kelle: Gendergaga. Wie eine absurde Ideologie unseren Alltag erobern will. Adeo Verlag, München 2015, gebunden, 188 Seiten, 17,99 Euro

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