© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/15 / 13. März 2015

Himmelschreiende Greuel
Der Historiker Michael Hesemann präsentiert unbekannte Beweise aus dem Vatikan für den türkischen Völkermord an den Armeniern
Gernot Facius

Am 10. September 1915 schrieb Papst Benedikt XV (1914–1922) an den osmanischen Sultan Mehmed V und bat um „Mitleid mit dem Schicksal des schwer bedrängten armenischen Volkes, das an den Rand der Vernichtung gebracht wurde“. Erst zwei Monate später, nach mehrmaligen Interventionen vatikanischer Diplomaten, reagierte der Sultan: Es sei leider „unmöglich, zwischen dem friedfertigen und dem aufständischen Element zu unterscheiden“, aber unabhängig von ihrer Rassen- oder Religionszugehörigkeit sei seine Regierung nach wie vor von einer „ebenbürtigen väterlichen Fürsorge allen Untertanen gegenüber beseelt.“

Zynischer hätte die Antwort nicht ausfallen können, denn die systematische Dezimierung des ältesten Volkes der Christenheit war zu diesem Zeitpunkt schon weit fortgeschritten. In einem vatikanischen Dokument aus dem Herbst 1915 ist von „beinahe einer Million Opfern“ die Rede, bevor das Massensterben und Morden an den Deportierten in der syrischen Wüste überhaupt begonnen hatte. Die Zahl von 1,5 Millionen Todesopfern scheint deshalb realistisch.

Insgesamt, rechnet der Düsseldorfer Historiker Michael Hesemann vor, kamen sogar 2,5 Millionen Christen während der Verfolgung der Jahre 1915 bis 1922 um, denn die Greuel gingen nach dem Sturz der „Jungtürken“ weiter. Hesemann beschreibt die verzweifelten Versuche des „Friedenspapstes“ und seiner Delegaten, dem Morden, das am 24. April, also exakt vor 100 Jahren mit der Verhaftung der armenischen Elite von Konstantinopel begonnen hatte, Einhalt zu gebieten.

Er hat bislang unveröffentlichte Dokumente aus den Archiven des Vatikans und der Nuntiaturen in München und Wien ausgewertet: fast 2.000 Seiten. Fazit seiner Forschungsarbeit: Es war ein geplanter Völkermord, mit „Umsiedlung“ habe das, was geschehen ist, nichts zu tun. Mit aller Brutalität wurde die „Vision“ eines rein muslimischen Staates in die Tat umgesetzt. Hesemann widerlegt anhand der gefundenen Dokumente „türkische Lügen“ über einen angeblichen armenischen Aufstand oder „Kollaboration mit dem Feind“, also Rußland. Es ging um die „Reinigung“ des Landes von seinen nichtislamischen Bewohnern entsprechend einer „islamofaschistischen pantürkischen“ Ideologie.

Tatsächlich wurden neben den orthodoxen Armeniern auch Katholiken und Protestanten, ja sogar die aramäischen (syrischen) Christen und orthodoxen Griechen ebenfalls verfolgt und ermordet: „Von den katholischen Armeniern, die nun wirklich mit Rußland nichts am Hut hatten, sind sogar prozentual mehr ermordet worden, nämlich 86,7 Prozent, als von den orthodoxen Armeniern (71,6 Prozent) – und das trotz wiederholter Versprechen an den Vatikan, die Katholiken zu verschonen.“

Der armenisch-katholische Patriarch schrieb unter dem 18. Juni 1916 nach Rom: „Das Projekt zur Vernichtung des armenischen Volkes in der Türkei ist noch immer in vollem Gange. Die exilierten Armenier werden nach wie vor in die Wüste getrieben, sie gehen kläglich zugrunde. Es ist sicher, daß die osmanische Regierung beschlossen hat, das Christentum aus der Türkei zu beseitigen, bevor der Weltkrieg zu Ende geht. Und das alles geschieht im Angesicht der christlichen Welt.“

Hesemann stieß bei seinen Forschungen auf den glühenden Appell des Kölner Erzbischofs, Felix Kardinal von Hartmann, an Reichskanzler Georg Graf von Hertling, den türkischen Verbündeten zur Räson zu bringen. Die Reichsregierung sei dazu moralisch verpflichtet, wolle sie nicht vor Gott und der Geschichte für die „himmelschreienden Greuel“ verantwortlich gemacht werden. Der Kardinal war ein kaisertreuer, nationalistischer Kirchenmann, aber selbst er stieß auf Granit. Denn Reichskanzler Theobald von Bethmann-Hollweg hatte das deutsche Ziel klar definiert: „Die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu haben, gleichgültig, ob darüber Armenier zu Grund gehen oder nicht.“

Hier tritt der Autor aus der Rolle des Geschichtsschreibenden heraus und wird zum Ankläger: Mit seiner Politik der Passivität habe Deutschland Schuld auf sich geladen – eine Mitschuld vielleicht durch Mitwirkung, mit Sicherheit aber durch Wegschauen und Beschwichtigung. Um so größer sei heute die deutsche Verantwortung, das Versagen der Reichsregierung schonungslos aufzuklären.

Zudem dürfe es vor den Gerichten keine Völkermorde erster und zweiter Klasse geben, „nicht solche, die man leugnen darf, und solche, die munter und wider alle Fakten bestritten werden können“. An seine neue Veröffentlichung knüpft der katholische Historiker die Hoffnung, die Diskussion über das „Urverbrechen“ des 20. Jahrhunderts neu entfachen und die Fakten auch in die Türkei tragen zu können. Eine eher trügerische Hoffnung. Bislang hat man sich von Erdogan & Co. stets einschüchtern lassen.

Daß Hesemann eine Querverbindung vom Genozid an den Armeniern zum Judenmord der Nationalsozialisten zieht, hat ihm schon bei der Ankündigung seines Buches den Vorwurf eingetragen, den Holocaust zu relativieren. Die Kritik der Hohepriester der Politischen Korrektheit perlte an ihm ab: Mit den Deportationen, den Todesmärschen und KZs sei der Armenozid „natürlich“ das historische Vorbild für den Holocaust gewesen, allerdings gebe es einen Unterschied: „Der Armenozid war archaisch und barbarisch, die Schoa dagegen perfektionierte, industrialisierte den Völkermord.“

Doch die Singularität der Schoa zu postulieren hieße, ihre Wiederholbarkeit zu bestreiten. Hesemann kann sich dabei auf den Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel berufen. Der Auschwitz-Überlebende hat schon in den fünfziger Jahren den Armenozid den „Holocaust vor dem Holocaust“ genannt.

Michael Hesemann: Völkermord an den Armeniern. Herbig Verlag, München 2015, gebunden, 352 Seiten, 25 Euro

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