© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/15 / 13. März 2015

Kalifat des kalkulierten Schreckens
Der Islamwissenschaftler deutet die Rolle und den Aufstieg des Islamischen Staates: Eine Folge der verbrannten Erde der US-Amerikaner im Irak
Michael Paulwitz

Von einer Terrorgruppe unter vielen im von westlichen Interventionen zerrütteten Irak und Syrien ist der „Islamische Staat“ (IS, zuvor auch ISI oder ISIS) zur „mächtigsten Terrororganisation der Welt“ geworden, die ein von sechs bis acht Millionen Menschen bewohntes Gebiet kontrolliert, über beträchtliche finanzielle Ressourcen und Rekruten aus aller Welt verfügt und mit propagandistisch wirkungsvoll zur Schau gestellter archaischer Gewalt die Weltöffentlichkeit in Atem hält.

Dem promovierten Islamwissenschaftler und Terrorfachmann der regierungsnahen Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) Guido Steinberg gelingt es anschaulich, die Rationalität hinter den scheinbar irrationalen Gewaltexzessen und Machtansprüchen begreiflich zu machen. So ist die Selbstausrufung von IS-Chef Abu Bakr al-Baghdadi zum „Kalifen“ mit Weltherrschaftsanspruch kein Ausdruck von Größenwahn, sondern ein starkes antikolonialistisches Signal: Die Aufteilung des osmanischen Erbes zwischen Briten und Franzosen auf der Grundlage des Sykes-Picot-Abkommens von 1916 habe nach IS-Lesart 1924 zum Sturz des Kalifats und zur Unterjochung der Muslime geführt; entsprechend ist der Kampf gegen die Sykes-Picot-Grenzen, namentlich die zwischen Irak und Syrien, zentral in der IS-Propaganda.

Des weiteren ist der Kalifats-Anspruch logische Folge der Abgrenzung von al-Qaida, wo auch die Wurzeln der Baghdadi-Organisation liegen. Das Kalifat, der eigene Staat auf selbstkontrolliertem Territorium, ist etwas, was al-Qaida nicht geschafft hat, und untermauert den IS-Führungsanspruch im Wettbewerb um dschihadistische Kämpfer und Ressourcen. Dieser Logik folgen auch die Horrorvideos von Massakern, Enthauptungen und Verbrennungen: Sie verbreiten Schrecken beim Feind und mehren den Ruhm unter Jung-Islamisten weltweit, auch in Europa, wo die professionell gemachten IS-Videos Kultstatus genießen.

Schon durch das erste Enthauptungsvideo von 2004 habe sich der Jordanier Abu Musab az-Zarqawi, der die Organisation im Jahr 2000 in einem afghanischen Trainingslager mit vier Getreuen als von al-Qaida unabhängige Gruppierung gegründet hatte, als „Pionier dschihadistischer Propaganda“ erwiesen, meint Steinberg; sein Nachfolger al-Baghdadi konnte seit 2010 die Zahl ausländischer Kämpfer von rund tausend auf über 15.000 und damit zum bedeutenden Machtfaktor steigern – die CIA schätzt sogar doppelt so viele. Die meisten internationalen Kämpfer stammen aus Saudi-Arabien und Tschetschenien, aber auch junge Muslime aus Frankreich, Großbritannien und Deutschland, darunter etliche besonders fanatische Konvertiten, sind in Größenordnungen von einigen hundert bis zu tausend vertreten.

Die Hauptverantwortung für den kometenhaften Aufstieg dieser Terrororganisation sieht Steinberg bei „katastrophalen Fehlern“ der USA. Das beginnt mit dem amerikanisch-britischen Irak-Krieg vom Frühjahr 2003, der „das Schlachtfeld, auf dem Zarqawi seine neue Organisation aufbauen konnte“, überhaupt erst geschaffen hatte. Zu den Falschbehauptungen, mit denen die US-Invasion begründet wurde, gehörte eine angebliche Verbindung zwischen dem al-Qaida-Verbündeten az-Zarqawi und dem Regime des Saddam Hussein.

Dessen rascher Zusammenbruch und die von den US-Besatzern betriebene Zerschlagung der sunnitisch dominierten Armee und Verwaltung schuf ein Substrat macht- und militärtechnisch erfahrener, aber angesichts der nun vorherrschenden schiitischen Bevölkerungsmehrheit perspektivloser Sunniten, auf dem eine Vielzahl traditioneller Guerilla-Truppen, aber auch islamistischer Dschihadisten-Organisationen aufblühte.

Zarqawis al-Tauhid-Gruppe, die schon zu diesem Zeitpunkt Weltherrschaftsambitionen verkündete, erreichte zwar das Ziel, dominierende Kraft in diesem Aufstand zu werden und den Bürgerkrieg durch gezielte terroristische Provokationen gegen die neuen schiitischen Machthaber zu verschärfen. Die 2004 erfolgte Unterordnung unter die al-Qaida-Organisation, mit der sich bereits Zarqawi später überwarf, hatte nach Steinberg vor allem taktische Gründe. Die erfolgreichen US-Offensiven der Jahre 2006 und 2007, in deren Verlauf auch az-Zarqawi getötet wurde, brachten die Organisation allerdings an den Rand des Zusammenbruchs.

Zarqawis Nachfolger al-Baghdadi erkannte die Chance zum Wiederaufstieg nach der weitgehenden Machtübergabe durch die USA im Jahr 2009 an die irakische Regierung. Die zettelte unter dem Schiiten al-Maliki eine umfassende und brutale Sunnitenverfolgung an, die der seit 2006 „Islamischer Staat im Irak“ genannten Terrortruppe auch höherrangige Offiziere und Beamte des gestürzten Baath-Regimes von Saddam Hussein zutrieb.

Auf die Frage, welche Rolle die arabischen Verbündeten der USA, in erster Linie Saudi-Arabien und Qatar, beim Ausgreifen des „Islamischen Staats“ in das vom Bürgerkrieg zerrüttete Syrien spielten, geht Steinberg leider nur kursorisch ein, indem er „private Geldgeber“ erwähnt. Dabei spricht einiges dafür, daß ISI/ISIS/IS von diesen Verbündeten mit Billigung der USA gezielt gegen den syrischen Präsidenten Assad in Stellung gebracht wurde, um festgefahrene Fronten aufzubrechen.

Was mögliche Terroranschläge im Westen angeht, sieht Steinberg die vom IS herausgeforderte al-Qaida noch immer als größte Gefahr, die auch hinter den Pariser Anschlägen gesteckt habe. Die Priorität des IS liegt seiner Meinung nach im Staatsaufbau. Der könnte allerdings seinen Zenit bereits überschritten haben, da im IS-Territorium Landwirtschaft und Zivilökonomie kaum noch stattfinden. Die Eröffnung internationaler Terrorfronten, vor allem durch Sympathisanten in Europa, die nicht zum IS ausreisen könnten, sei damit durchaus denkbar. Besiegt werden könne IS nicht aus der Luft, sondern letztlich nur durch sunnitische Muslime im Land. Die auch von Steinberg nahegelegte Aufrüstung der von den USA und ihren Alliierten favorisierten Anti-Assad-Koalition „Freie Syrische Armee“ könnte sich dabei allerdings als fataler Fehler erweisen, der die Region eher noch weiter destabilisiert.

Guido Steinberg: Kalifat des Schreckens. IS und die Bedrohung durch den islamistischen Terror. Droemer Knaur Verlag, München 2015, broschiert, 208 Seiten, 12,99 Euro

Foto: Öffentlichkeitswirksame Hinrichtung des US-Amerikaners James Foley durch einen IS-Kämpfer am 20. August 2014: Rationalität hinter scheinbar irrationalen Gewaltexzessen

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