© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/15 / 13. März 2015

Aus den Briefen eines Kontrollfreaks
Kein neues Standardwerk: Auf Grundlage neuer Dokumente präsentiert der Brite Andrew Roberts dennoch eine bemerkenswerte Biographie Napoleon Bonapartes
Markus Brandstetter

Napoleon ist die faszinierendste Herrschergestalt Europas seit der Antike. Er war intelligent und belesen wie nur Mark Aurel und Friedrich II. vor ihm; machthungrig und durchsetzungsstark wie Ludwig XIV. und Friedrich der Große; ein Heerführer und Eroberer wie Alexander und Cäsar – und bei all dem war er auch noch ein geistreicher und witziger Mensch, der mit Wissenschaftlern und Philosophen auf Augenhöhe diskutieren konnte. So ganz nebenbei hat er die Französische Revolution beendet, die Republiken von Venedig und Genua abgeschafft, den Papst verhaftet, das größte europäische Reich seit dem Imperium Romanum aufgebaut, mehr Schlachten gewonnen als jeder andere Feldherr (53 von 60) und die beste Armee seiner Zeit geführt.

Deshalb gibt es auch zehntausend Biographien über ihn, von denen zehn oder mehr zu jeder Zeit im Buchhandel verfügbar sind. 1.500 Menschen haben ihre Erinnerungen an ihn veröffentlicht. Genau wie bei Luther, Goethe und Beethoven wurde jeder Tag in Napoleons Leben erforscht, jedes Wehwehchen untersucht, jede Bettgeschichte unter die Lupe genommen, jeder Ausspruch, jeder Witz und jeder Fehler des großen kleinen Korsen sorgfältig dokumentiert.

Brauchen wir also schon wieder eine Napoleonbiographie, noch dazu einen Ziegelstein mit tausend englischen Seiten, auf denen der Leser mit Namen von Königen, Kaisern, Zaren, Herzogen, Gräfinnen, Generalen, Offizieren, Orten und Örtchen in ganz Europa praktisch zugeschmissen wird?

Eigentlich nicht, müßte man sagen, wären da nicht die Briefe Napoleons. Der erste Kaiser der Franzosen hat nämlich während seines kurzen Lebens 33.000 Briefe geschrieben, an die 30 am Tag und ein paar tausend in jedem Jahr seiner Regierungszeit. Napoleons Briefe wurden zwar 1857 veröffentlicht, aber erstens waren es nur zwei Drittel aller vorhandenen; zweitens waren manche dieser Briefe gar nicht von Napoleon, und drittens wurde alles, was aus Sicht des 19. Jahrhunderts kompromittierend, peinlich oder politisch belastend war, gar nicht erst veröffentlicht, sondern fein säuberlich unter den Teppich gekehrt.

Seit die Pariser Fondation Napoléon 2004 damit begonnen hat, jedes Fitzelchen Papier, das Napoleon unterzeichnet hat, zu veröffentlichen, liegt dieser Schatz an historischen Dokumenten aus erster Hand jedem, der Französisch kann, offen. Andrew Roberts hat sich als erster der Aufgabe unterzogen, diesen Briefwechsel, der inzwischen bis einschließlich 1812 vorliegt, auszuwerten.

Ein neues Napoleonbild ergibt sich daraus jedoch nicht. Roberts zeigt schön, daß Napoleon als Briefschreiber oft witzig war, Probleme knapp, klar und bis an die Wurzel erfaßte. Er war jedoch gleichermaßen manipulativ, verletzend und manchmal auch kalt und gefühllos. Den Witwen seiner gefallenen Offiziere wußte er meist nicht mehr zu sagen als: Ihr Mann war ein tapferer Held und ein echter Patriot, aber jetzt ist er tot, so ist das Leben, da müssen wir durch, Sie auch ma chère.

Seinen vier Brüdern, die er als Könige von Spanien, Holland, Westfalen und Neapel installiert hatte, ist er mit täglich bis zu fünf Briefen, in denen er ihnen von der Politik über die militärische Strategie bis zur Lebenseinstellung alles vorschrieb, ganz gewaltig auf die Nerven gegangen, weshalb nach seinem Fall keiner mehr etwas mit ihm zu tun haben wollte. Joséphine de Beauharnais, seiner ersten Frau, die ihn bereits Wochen nach der Hochzeit betrog, schrieb Napoleon Tausende romantischer Briefe, in denen er unterwürfig und peinlich um Liebe und Zuneigung bittet.

Roberts zeigt mit vielen Zitaten Napoleons unfaßbares Mikromanagement, mit dem er während aller Feldzüge noch die kleinsten Kleinigkeiten in ganz Frankreich regeln wollte. Ein Priester, der eine schlechte Predigt gehalten hatte, das Programm der Comédie Française, die Produktion von Soldatenstiefeln – nichts war Napoleon zu gering, um sich nicht ausführlich damit zu befassen.

Der Korse war ein harter Machtmensch, aber er war kein sadistischer Massenmörder wie Stalin, Hitler, Mao oder Pol Pot. Als nach der Schlacht bei Austerlitz ein Österreicher schwer verwundet auf einer Eisscholle in einem See lag und Napoleon seine Hilferufe hörte, ließ er den Mann von zwei Offizieren seiner Leibgarde retten.

Das größte Manko dieser Biographie liegt darin, daß Roberts es nicht versteht, Napoleons Schlachten, die zu den dramatischen gehören, die jemals geschlagen wurden, mitreißend zu schildern. Nüchtern, platt und linear werden da welthistorische Dramen einfach so heruntererzählt. Trotz der ganzen Faktenhuberei weiß diese Biographie nichts von der Militärtechnik der Zeit, erfährt der Leser zwar einiges über Logistik und Napoleons revolutionäre Einteilung einer Armee in Korps, aber nichts über Gewehre, Kanonen, Ausrüstung und Taktik.

Auch das geopolitische Erdbeben, das Napoleon veranstaltete, sein Durcheinanderwürfeln der europäischen Herrscherhäuser, das ihm wie nichts sonst den Haß der Österreicher, Russen und irgendwann auch der Preußen eintrug, interessiert Roberts kaum.

Alles in allem ist das gewiß eine kompetente, lesenswerte Biographie, der angekündigte ganz große Wurf ist es aber nicht geworden.

Andrew Roberts: Napoleon. A Life. Viking Press, New York 2015, gebunden, 976 Seiten, Abbildungen, 24,95 Euro

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