© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/15 / 13. März 2015

Immer so durchgemogelt
Analphabetismus: Mehr als sieben Millionen Menschen in Deutschland können weder lesen noch schreiben
Markus Brandstetter

Früher waren die Dinge einfach, jetzt sind sie kompliziert. Vor dreißig Jahren war es so: Die weißen Lieferscheine gingen an die Kunden, die gelben blieben im Lager, und die grünen waren für die Buchhaltung. Die grünen waren ihm egal, denn mit der Buchhaltung hatte er nichts zu tun. Er geht nie ins Büro, denn da sind Frauen in Kostümen und Männer mit Krawatten, die immer nur Papierstapel hin- und herschieben. Er mag keine Papiere.

Nennen wir ihn Jakob. Jakob mag Kisten, Kästen und Kasten: große, unförmige, schwere Trümmer, die man hochheben, in Regale stapeln oder aus LKWs rausholen muß. Das ist seine Welt: schwere Sachen, harte Arbeit und Hallen mit Regalen bis zum Horizont. Jahrelang war das gut, auch das Geld, das er verdiente. Angst hatte vor gerissenen Bändern, Leistenbrüchen und Rückenschmerzen hatte er nicht.

Die ersten wirklichen Probleme kommen mit den Computern, das muß Anfang der 1990er Jahre gewesen sein. Da soll er die Nummern der Lieferscheine oben in ein leeres Feld eingeben. Die Lieferscheine sind immer noch weiß, gelb und grün, aber jetzt soll er sie nicht mehr in einen Korb werfen und vergessen, sondern Zahlen in den Computer tippen. Das ist eine Herausforderung. Monatelang kann er nicht mehr richtig schlafen, wacht mitten in der Nacht auf und sieht den schwarzen Bildschirm mit den grünen Zahlen vor sich.

Er tut nur so, als ob er lesen könnte

Aber nach und nach kommt er auf Tricks und Schliche. Er lernt die Anordnung des Zahlenblocks auf der Computer-Tastatur auswendig; merkt, daß sie überall gleich ist; stellt fest, daß die Nummern der Lieferscheine immer mit denselben fünf Zahlen beginnen; daß Datum und Postleitzahl in ihnen enthalten ist; daß sich Muster regelmäßig wiederholen. Das macht die Sache einfacher. Bald hat er keine Angst mehr vor der Tastatur, stellt sich an den speckigen Tisch neben dem Pförtnerhäuschen hin wie andere, tippt seine Zahlen ein, drückt auf den Knopf mit „P“ wie Print und wartet darauf, daß der Lieferschein aus dem Drucker herauskommt.

Zehn Jahre lang läuft alles prima, und er denkt, daß es nun für immer so bleiben wird. Dann wird die Spedition verkauft, es kommt ein neuer Lagerleiter und Leute in Anzügen, die den Mitarbeitern im Lager zeigen, wie sie Fehler vermeiden und schneller arbeiten können. Früher hat er nie Fehler gemacht, zumindest so lange nicht, bis die Leute kamen, die ihm erklären, wie er keine Fehler macht.

Jetzt macht er plötzlich Fehler, denn jetzt sind alle Lieferscheine weiß, jedes Regal hat einen Nummerncode, der Computer spinnt die ganze Zeit, es muß andauernd woanders was anderes eingetippt werden, und der Bildschirm auf der Anzeige vom Gabelstapler wechselt auch die ganze Zeit. Jetzt reicht es nicht mehr, daß er Farben und Muster erkennt – jetzt muß er lesen können.

Doch genau das ist sein Problem: Er kann nicht lesen. Er tut nur so. Seit vierzig Jahren. Sein ganzes Berufsleben lang ist er damit durchgekommen, hat er so getan, als ob. Aber jetzt ist Schluß damit, jetzt muß er die Wahrheit sagen, weil er sich so oft vertippt, daß sie ihn noch entlassen werden, obwohl er schon so lange hier arbeitet. Jetzt schützen ihn seine Bärenkräfte, sein Arbeitswille und seine Bereitschaft, auch am Sonntag zu arbeiten, nicht mehr. Jetzt zählen „Skills“. So zumindest hat der neue Supervisor das genannt.

Ein Bundesverband bietet Rat und Hilfe

Nach der zweiten Abmahnung und weil er schon Herzrasen bekommt, wenn er die neuen Computer mit der SAP-Software nur sieht, nimmt er all seinen Mut zusammen, rennt an der Sekretärin vorbei, reißt die Tür auf und schreit: „Ich kann nicht lesen, und schreiben auch nicht, nur meinen Namen.“

Der Lagerleiter blickt auf, streicht seine Haare nach hinten, was er immer tut, wenn er nachdenkt, und sagt: „Dann müssen Sie es eben lernen. Dafür gibt es Kurse. Wir nennen das Retraining.“

Als er abends nach Hause kommt, sagt er zu seiner Frau: „Ich mach’ jetzt Retraining.“ „Was ist denn das?“ fragt sie. „Das ist, wenn man lesen lernt.“

Jakob ist Analphabet. Obwohl er die Hauptschule abgeschlossen, die Führerscheinprüfung abgelegt und seit vierzig Jahren einen festen Arbeitsplatz hat. Über seinem Leben könnte der Satz stehen: immer so durchgemogelt.

Damit ist Jakob nicht allein. Siebeneinhalb Millionen Menschen können in Deutschland nicht einmal einfache Texte lesen oder schreiben. Die Analphabeten führen ein Schattendasein in unserer Gesellschaft. Bis vor drei Jahren war nicht einmal bekannt, wie viele Analphabeten es exakt gibt. Dann hat die Hamburger Professorin Anke Grotlüschen 8.000 Menschen befragt und herausgefunden, daß ungefähr jeder neunte Mensch in Deutschland nicht richtig lesen und schreiben kann. Das sind 14 Prozent aller Erwerbsfähigen. 60 Prozent davon sind Männer, 12 Prozent davon haben – unglaublich, aber wahr – sogar eine weiterbildende Schule abgeschlossen.

Analphabeten unterteilt man in zwei Gruppen: die primären und die sekundären. Primären Analphabeten sind jene, die nie lesen und schreiben gelernt haben. Die sekundären haben zwar in der Schule lesen und schreiben gelernt, es später aber wieder vergessen oder verlernt und wurschteln sich nun – wie Jakob – mit einem Repertoire an Tricks und Eselsbrücken irgendwie durch. In Deutschland überwiegen bei weitem die funktionalen Analphabeten; sie können Buchstaben erkennen, verstehen aber den Sinn zumal längerer Text nicht.

Ein Mensch wird nicht Analphabet, weil er dumm ist, sondern dann, wenn er aus einer Familie kommt, in der die Eltern selbst nicht richtig lesen und schreiben können; wenn den Eltern Wissen und Bildung egal sind, und leider auch dann, wenn die Eltern keinen Beruf und keine Arbeit haben und vielleicht auch noch geschieden sind. Die Ursachen für Analphabetismus liegen also nicht im deutschen Schulsystem. An deutschen Schulen kann jeder lesen und schreiben lernen, und die meisten tun es auch.

Bis vor wenigen Jahren konnten sich Analphabeten noch einigermaßen durchschummeln, aber mit immer mehr Computern und Internet, mit einem iPhone in jedem Kinderzimmer und Logistik-Software in jeder Spedition wird das zunehmend schwieriger. Zukünftig wird Analphabetismus Arbeitslosigkeit, Armut und Ausgrenzung bedeuten.

Zum Glück muß es nicht so kommen. Kurse für Lesen und Schreiben gibt es fast in jedem Ort, ein Bundesverband bietet Rat und Hilfe und eine Fülle von Informationen.

Jakob besucht jetzt zweimal in der Woche einen Lesekurs. Das Fettgedruckte auf den Lieferscheinen kann er schon lesen. Am Computer in der Halle braucht er noch länger als die anderen, aber er tippt nicht mehr blind drauflos, sondern schreibt. Und liest.

Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung e.V., Berliner Platz 8-10, 48143 Münster, Telefon: 02 51 / 49 09 96-0

www.alphabetisierung.de

Foto: Alphabetisierungskurs im Cliquentreff der AWO an der Schürmannswiese in Herten (Nordrhein-Westfalen): Hier lernen Erwachsene lesen und schreiben

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