© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/15 / 13. März 2015

Zukunft wird geboren
Demographie: Wir haben keinen Mangel an Fachkräften, sondern seit Jahrzehnten einen an Kindern
Jürgen Liminski

An mahnenden Stimmen mangelte es nicht. Vor allem der renommierte Bevölkerungsforscher Herwig Birg hat früh darauf hingewiesen, daß der Kinderschwund in Deutschland erhebliche Folgen haben wird. Und schon 2002 fand in Berlin eine Tagung statt unter dem Titel „Demographie und Wohlstand“, die Experten, Politiker und Wirtschaftsbosse aus zehn europäischen Ländern zu Wort kommen ließ. Aber die damalige rot-grüne und auch die folgenden Koalitionen kümmerte der in historischer Zeitlupe anrollende bevölkerungspolitische Tsunami nicht. Das Grollen war noch so fern.

Heute kann die Nachfrage nach Ingenieuren, Lehrern, Altenpflegern und in vielen weiteren Berufen nicht gestillt werden. Vor allem bei den Ingenieuren wird die Lücke jährlich um rund 7.000 größer, dazu addiert sich künftig ein jährliches Manko an 20.000 Naturwissenschaftlern, wenn sich die Absolventenzahlen (nicht die der Studienanfänger) an den Hochschulen nicht drastisch erhöhen.

Danach sieht es demographisch aber nicht aus. Im Gegenteil. Da in den nächsten Jahren auch unter den Ingenieuren und Naturwissenschaftlern die Baby-Boom-Generation in Rente geht, brauchte man eigentlich das Doppelte der jetzigen Studentenzahlen – eine Illusion, numerisch und qualitativ.

Das Problem hat gewiß eine numerische Komponente. Es ist evident, daß eine größere Zahl bei gleichen Bedingungen die Wahrscheinlichkeit von mehr Talenten oder Genies erhöht. Die Generation oder Alterskohorte der 18- bis 35jährigen – sie ist die kreativste, viele Nobelpreisträger haben ihre Entdeckungen in diesem Alter gemacht, etwa Einstein seine Relativitätstheorie – hat sich in den letzten zwanzig Jahren halbiert. Die zahlenmäßige menschliche Basis für Innovation und qualitative Produktion, mithin für die Erhaltung des Wohlstandsniveaus ist schmaler geworden und wird noch schmaler werden.

Also müßte man um so mehr in die nachwachsenden Generationen investieren. Zum einen, damit diese Basis sich erweitert und zum anderen, damit sie qualitätsvoller wird. Mit anderen Worten: Mehr Investitionen in Bildung und vor allem in Familien, weil hier nicht nur die Kinder geboren, sondern auch die emotionalen Grundlagen für die Innovationsfähigkeit gelegt werden.

Die Geschichte zeigt es: Ohne eine zahlenmäßig breite menschliche Basis wären die Deutschen um einen Wolfgang Amadeus Mozart oder Johann Sebastian Bach, um einen Richard Wagner oder Otto von Bismarck, um einen Freiherrn vom Stein, Immanuel Kant, Franz Schubert, Carl Maria von Weber, Ludwig van Beethoven oder Georg Friedrich Händel ärmer.

Alle diese Menschen, denen man geniales Wirken und Talent nachsagt, wären in der heutigen deutschen Durchschnittsfamilie von 1,3 Kindern plus Haustier nicht geboren worden. Sie hatten alle wenigstens drei ältere Geschwister, Schubert, Weber, Bach, Händel, Wagner und Mozart sogar sechs.

Die Politik will nun die Mozarts, Bachs und Beethovens aus dem Ausland anlocken und damit den Fachkräftemangel beheben. Die Einwanderungsfrage wird überhaupt zum großen Spielfeld der Rivalitäten in der Großen Koalition, weil es das einzige ist, auf dem die Union noch mit einem zuständigen Ministerium mitreden kann, nachdem sie die anderen gesellschaftspolitischen Felder der SPD überlassen hat, die diese auch ausgiebig nutzt: Mindestlohn, Rente mit 63, Frauenquote.

In der Einwanderungsfrage nun verdichtet sich die gesellschaftspolitische Kompetenz: Integration, Fachkräftemangel, Flüchtlingsfragen und auch demographische Not. Da können CDU und CSU nicht mehr abseits stehen. Sie werden demnächst sicher mit einer gemeinsamen Initiative von Innenminister und Landespolitikern aufwarten.

Es wäre aber ein politischer Durchbruch, wenn ein CDU-Politiker einmal einräumte, man habe jahrzehntelang versäumt, durch mehr Gerechtigkeit für Familien auch eine aktive Bevölkerungspolitik zu betreiben. Oder daß die demographische Misere auch durch die Liberalisierung der Abtreibung entstanden ist.

Jetzt versucht die SPD – und die Union wird ihr darin folgen – durch eine neokolonialistische Einwanderungspolitik diese hausgemachten Defizite auszugleichen. Denn die Schwellen- und Entwicklungsländer brauchen nichts so dringend wie Köpfe, das heißt Fachkräfte aus den eigenen Völkern für ihre Entwicklung. Diese Köpfe für den Wohlstand in Deutschland abzusaugen, nachdem man jahrzehntelang Embryonen abgesaugt hat, ist ein ethischer Skandal.

Allerdings kann man davon ausgehen, daß nur sehr wenige Politiker in Berlin das so sehen und daß sie ein Punktesystem für die Zuwanderung von qualifizierten Arbeitskräften für das Nonplus-ultra halten.

Dabei gäbe es Alternativen. Man könnte Anreize schaffen für aktive Senioren. Viele wollen wenigstens in Teilzeit beschäftigt sein, und die Bereitschaft dafür ist nach jüngsten Umfragen durchaus gegeben. Seit zwanzig Jahren ist der Anteil der erwerbstätigen Ruheständler auch stetig gestiegen.

Da ist noch viel Potential, das übrigens auch sozial viel weniger konfliktträchtig wäre, als es Einwanderer fast zwangsläufig mitbringen. Und man könnte mit mehr Gerechtigkeit für Familien auch ein Klima schaffen, das kinderfreundlicher und damit geburtenträchtiger wäre.

Aber das ist schon eine langfristige Sichtweise, die sich zwar mit den Anreizen für Rentner wunderbar ergänzte, die aber bekanntermaßen nur bei Staatsmännern vorkommt – pardon, natürlich auch bei den vermutlich noch selteneren Staatsfrauen. Deren Quote müßte man eigentlich zwangsweise erhöhen.

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