© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  11/15 / 06. März 2015

Eroberer stoßen in ein Vakuum vor
Multikultureller Umbruch: Warum die Romane von Michel Houellebecq und Jean Raspail zusammen gelesen werden müssen
Thorsten Hinz

Die Schwedische Akademie, die den Nobelpreis für Literatur vergibt, hat noch immer eine Präferenz für europäische Autoren. Falls sie daran festhält, empfehlen sich 2015 gleich zwei französische Schriftsteller für den Preis: Michel Houellebecq, der mit seinem Roman „Unterwerfung“ gerade Furore macht, und Jean Raspail, der 1973 den Klassiker „Das Heerlager der Heiligen“ veröffentlichte und in diesem Jahr seinen 90. Geburtstag begeht. Beide haben die fortschreitende Krankheit Europas am klarsten erkannt und am gründlichsten beschrieben – jeder auf seine Weise. Man muß sie als Komplementär-Autoren lesen und verstehen.

Houellebecqs Roman „Unterwerfung“ wird von manchen als antiislamisches Buch verstanden, was es keineswegs ist. Der Islam, der Frankreich erobert, ist die Schwäche Europas als Gestalt. Der Autor grenzt sich von der apokalyptischen Variante der Islamisierung genauso ab wie von der Vorstellung, der Islam sei ein harmloser Beitrag zum multikulturellen Kindergeburtstag. Houellebecq antizipiert eine liberale Variante: Der muslimische Präsident läßt die zivilisatorischen, kulturellen und wissenschaftlich-technischen Errungenschaften des Westens weitgehend unangetastet, er schneidet lediglich die dekadenten Auswüchse zurück. Aktvistinnen wie Alice Schwarzer müßten ihren Mund halten, Conchita Wurst und Pussy Riot dürften ihren Exhibitionismus nur noch in den eigenen vier Wänden ausleben und die Abtreibungskliniken würden schließen. Es wäre eine vom Nihilismus gereinigte, religiös neu aufgefüllte Gesellschaft.

Der Roman handelt hauptsächlich vom Selbstekel und vom Verschwinden des westlichen Intellektuellen aus der Geschichte. Die Tragödie dieses Repräsentanten des „feuilletonistischen Zeitalters“, der „von den Kirchen nicht mehr tröstbar, vom Geist unberaten“ ist, der „zuckend“ dahinlebt und „an kein Morgen“ mehr glaubt (so Hermann Hesse im „Glasperlenspiel“), wurde von Fjodor Dostojewski in den „Brüdern Karamasow“ vorgezeichnet. In der berühmten Parabel vom Großinquisitor wirft der Kirchenmann dem Sohn Gottes vor, die Menschen einer Freiheit überlassen zu haben, die sie überfordert. Erst die Kirche habe ihnen die Last der Freiheit genommen.

Dostojewski beendete den Roman vor gut 135 Jahren. Seitdem haben die Kirchen allerdings ihre Autorität eingebüßt und mißtrauen dem eigenen Glauben. Der Kommunismus als Ersatzreligion ist ebenfalls erledigt und stillt keinen spirituellen Hunger mehr. Bei Houellebecq vollendet sich das Schicksal daher im Islam und trotzdem genau so, wie der Großinquisitor es prophezeite: „(...) und enden wird es damit, daß sie uns ihre Freiheit zu Füßen legen und sagen: Knechtet uns, aber macht uns satt.“

Dennoch spricht einiges gegen Houellebecq liberale Version: Aktuelle und historische Erfahrungen zeigen, daß solche Umbrüche niemals sanft verlaufen. In Simbabwe und Südafrika waren scheinbar alle Vorkehrungen für die Transformation von der weißen Minderheitsregierung zur gemischtrassigen Demokratie und zum Rechtsstaat getroffen worden. Heute ist Simbabwe zugrunde gerichtet und auch aus Südafrika ziehen die Weißen sich zurück.

Am Ende seines Buches „Der Untergang des Römischen Reiches und das Ende der Zivilisation“ (2005/2007) kommt der britische Historiker Bryan Ward-Perkins zu dem Schluß: „Das Ende des römischen Westens erlebte Schrecken und Verwerfungen einer Art, von der ich hoffe, sie nie durchleben zu müssen; und es zerstörte eine komplexe Zivilisation, wobei die Bewohner des Westens auf einen Lebensstandard, der typisch für prähistorische Zeiten war, zurückgeworfen wurden.“

Marsch der Millionen nach Europa

Der Begriff Islamisierung ist eine Chiffre für das Ausgreifen der Dritten Welt nach Europa. Die Machtübernahme durch einen muslimischen Präsidenten wäre Folge, Fortsetzung und Verstärker einer sozialen und gesellschaftlichen Dynamik, die er, selbst wenn er das wollte, kaum eindämmen könnte. Verdrängungen, Enteignungen und Umverteilungen zu Lasten der indigenen Bevölkerung wären das mindeste.

Houellebecqs Modell wird deshalb erst durch die Komplementär-Lektüre Jean Raspails vollständig. Im „Heerlager“ bildet eine Hungersnot in Indien den Auftakt für den Marsch der Millionen nach Europa. Die Heerscharen, die in Südfrankreich an Land gehen, sind religiös und politisch leidenschaftslos. Sie treibt die Hoffnung auf ein besseres Leben. Die vom Humanitarismus ergriffenen Europäer verfügen über keine moralische Widerstandslinie, an der sie sich der Menschenlawine entgegenstellen könnten, die schließlich alle und alles unter sich begräbt. Bei Houellebecq ist es das geistig-moralische Vakuum des modernen Europa, das die Eroberer ansaugt. Bei Raspail offenbart der äußere Druck die innere Schwäche des alten Kontinents.

Der Verlag Antaios hat kürzlich zwei weitere Bücher Jean Raspails in deutscher Sprache herausgebracht: Den Roman „Sieben Reiter verließen die Stadt“ von 1993, der in der Belletristik-Reihe „edition nordost“ erscheint, sowie ein Bändchen mit Interviews und Aufsätzen Raspails.

Die „Sieben Reiter“ spielen in virtueller Zeit in einem virtuellen Land. Staat und Gesellschaft sind im Zerfall begriffen, es herrscht Gesetzlosigkeit, das Wirtschaftsleben liegt darnieder, die Kommunikation zwischen Hauptstadt und Provinz ist abgerissen. Die Kirchen sind geplündert, der machtlose Markgraf sitzt in einem leeren, ausgekühlten Schloß. Er schickt sieben Reiter aus, welche die Gründe für das Elend erkunden sollen.

Die Konstellation ist sagenhaft und zugleich minimalistisch und idealtypisch: Zum Fähnlein der letzten Aufrechten gehören Silvius, der Militärgouverneur, ein Bischof, ein erfahrener Unteroffizier und ein junger, heldisch gesinnter Kadett. Das barocke Gepränge der Uniformen kontrastiert mit den technischen Details – es gibt Eisenbahnen und Telegrafie –, die dem 19. Jahrhundert angehören. Die Schilderungen aus dem von Bergvölkern besiedelten Grenzbezirk wiederum erinnern an die Erzählung „Hadschi Murat“ von Lew Tolstoi, die in Tschetschenien spielt. Raspails verzaubert den Leser mit einem magischen Realismus. Der Vergleich mit Ernst Jüngers „Mamorklippen“ bietet sich an.

Nivellierung geistiger und moralischer Maßstäbe

Der Ritt gleicht „einer Messe der Besiegten“. Er führt ins Innere einer zerfallenen Gesellschaft, eines verwüsteten, vom molekularen Bürgerkrieg heimgesuchten Landes. Die Städte und Dörfer werden von äußeren Feinden bedrängt, denen Kollaborateure, die sich auf die Seite der Stärkeren schlagen, die Tore öffnen. Das erste sichtbare Symptom der Katastrophe war eine Rebellion von Kindern und Jugendlichen, die über den üblichen Generationenkonflikt hinausging und auf das ideelle Fundament der Gesellschaft zielte. Das ist als Anspielung auf die 68er Studentenbewegung zu verstehen. Im Gespräch mit dem Bischof übt Silvius zudem heftige Kritik am Christentum, das der Gesellschaft den „Virus der Barmherzigkeit“ eingepflanzt habe. „Das ist eine Tugend, die wehrlos macht ...“

Wo alle Verbindlichkeiten aufgelöst sind, wird der einzelne auf sich selbst zurückgeworfen und ist seine Fähigkeit zur Entscheidung gefragt. Diese konzentriert sich in einem charismatischen Knaben, der im Angesicht des Elends und der menschlichen Gemeinheit gelernt hat zu töten und eine wehrhafte Gemeinschaft um sich versammelt. Auch die Reiter müssen – jeder für sich – ihre Entscheidungen treffen. Mit einem Szenenwechsel, der an den Filmschnitt aus Stanley Kubricks „2001: Odyssee im Weltraum“ erinnert, der den Zuschauer aus der primitiven Vor- in die hochtechnisierte Jetztzeit wirft, führt Raspail den Leser unvermittelt in die Gegenwart – und in gewisser Weise zu Houellebecq.

Das „Heerlager“ dürfte heute wohl nicht mehr erscheinen, vermutet Raspail in einem Gespräch, das im Essay-Band abgedruckt ist. Die seither verabschiedeten Gesetze gegen Rassismus und Diskriminierung böten für ein Verbot genügend Handhaben. Dabei waren die Reaktionen der Politiker, denen er ein Exemplar des Romans zukommen ließ, von links bis rechts durchweg höflich, oft interessiert und sogar zustimmend. Trotzdem hätten sich bei den Abstimmungen alle dem Druck des „Big Other“ gebeugt.

Der „Andere“ manifestiert sich ganz wesentlich im Prozeß der fortschreitenden Vermassung. Raspail macht kein Hehl sowohl aus seiner Abneigung gegen „Massenländer“, deren Bevölkerungsüberschuß nach Europa drängt, wie gegen die Nivellierung geistiger und moralischer Maßstäbe. Auch die Kirchen hätten schuld daran. Die Hingabe an die Ankömmlinge aus der Dritten Welt entleere den Sinn der christlichen Nächstenliebe, die man dem Nächsten schuldig sei.

Die notwendigen Maßnahmen, um die Situation zu wenden, „wären mit einer erheblichen Zwangsausübung verbunden“, zu der wohl niemand den Mut hätte. Dazu brauchte es das „Aufflammen eines epischen Geistes, einen Sinn für ein höheres Schicksal“, wofür er keine Anzeichen sehe. Andererseits weist er auf die Minderheiten hin, die aktiv werden, auch in der katholischen Kirche. Er gibt sich als Anhänger des Pareto-Prinzips zu erkennen, wonach 20 Prozent der Mitglieder einer Gesellschaft mehr zu deren Gesamtwert beitragen als die übrigen 80 Prozent.

Der Mitherausgeber und -übersetzer des Bandes, Martin Lichtmesz, bereitet überdies eine Neuausgabe des „Heerlagers der Heiligen“ vor, die im April gleichfalls bei Antaios erscheinen soll. Sie stützt sich auf die 1985 erschienene, von Raspail gründlich überarbeitete dritte Auflage des Romans.

Natürlich wird Raspail, dieser „letzte Franzose“ („Ich lebe seit 1.500 Jahren in Frankreich, ich bin mit dem zufrieden, was mir gehört, und ich habe keinerlei Bedürfnis, daran etwas zu ändern), den Literaturnobelpreis niemals erhalten. Über die Schwedische Akademie würde ein Unwetter der öffentlichen Empörung hereinbrechen. Die Chancen für Michel Houellebecq aber stehen vergleichsweise günstig. Bei der Preisverleihung würde Jean Raspail dann als unsichtbarer Mitempfänger neben ihm stehen.

Jean Raspail: Sieben Reiter verließen die Stadt. Roman. Verlag Antaios (Edition Nordost), Schnellroda 2014, gebunden, 245 Seiten, 22 Euro

Jean Raspail: Der letzte Franzose. Kaplaken 41. Verlag Antaios, Schnellroda 2014, gebunden, 96 Seiten, 8,50 Euro

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen