© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  11/15 / 06. März 2015

Glaubenskrieg um Impfungen
Deutschland scheint die Masern gut im Griff zu haben / Doch ein Erkrankter von tausend stirbt
Heiko Urbanzyk

Der Tod eines 18 Monate alten Jungen infolge einer Maserninfektion Mitte Februar in Berlin schlägt hohe Wellen. Der fehlende Impfschutz des Kindes bestimmt die Debatte vom Bundesgesundheitsministerium bis zum Thekengespräch in der Pommesbude. Das Thema ist nicht neu und kocht regelmäßig in den Medien hoch – und sei es aufgrund des Todes durch Spätfolgen viele Jahre nach der Masernansteckung. So geschah es im Sommer 2013 im lippischen Lage. Ein 14jähriger verstarb mehr als 13 Jahre nach den Masern. Im Zentrum des Themas stand der fehlende Impfschutz des damaligen mutmaßlichen Überträgers im Wartezimmer eines Kinderarztes.

Steigerung der Masernfälle auch dank „Zuwanderern“

Die Zahl der jährlichen Masernfälle in Deutschland schwankt, so daß Regelmäßigkeiten nicht erkennbar sind. Angaben des Robert-Koch-Instituts (RKI) zufolge gab es 2013 genau 1.769 Masernfälle. Ein Jahr später 444 und bis zum Stichtag 25. Februar zählte das Institut bundesweit bereits 507 Fälle. In Berlin wüten die Masern seit Monaten. Zwischen Oktober 2014 und dem 23. Februar wurden – auch dank „zugewanderter Menschen“ – 574 Masernfälle gemeldet, wie das Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales mitteilte. Dies sei der größte Masernausbruch seit Einführung der Meldepflicht im Jahr 2001.

Das Robert-Koch-Institut (RKI) hält in Deutschland die Masern für relativ harmlos. Ganz im Gegensatz zu Asien und Afrika: „Hier gehören sie zu den zehn häufigsten Infektionskrankheiten, und der Anteil tödlicher Verläufe ist besonders hoch“, heißt es in einem Ärzteratgeber des RKI. In Deutschland sterben laut Statistischem Bundesamt jährlich ein bis zwei Menschen an Masern. Ob die Opfer geimpft waren oder nicht, geht aus den Zahlen nicht hervor. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation liegt in entwickelten Ländern die Sterblichkeitsrate der Masern zwischen 0,05 und 0,1 Prozent. Dies berücksichtigt Spätfolgen wie die subakute sklerosierende Panenzephalitis (SSPE), eine langsame Zerstörung des Gehirns. Im Vergleich zur Dritten Welt mit Letalitätsraten von sechs Prozent eine verhältnismäßig bescheidene Zahl.

Seit Einführung der Meldepflicht im Jahr 2001 sei zunächst die Zahl der jährlich an das RKI übermittelten Masernfälle aus den Bundesländern erheblich zurückgegangen, wie das RKI mitteilt. Seit 2005 werde dem RKI jedoch jährlich eine zum Teil erheblich schwankende Anzahl von Masernfällen aufgrund unterschiedlich großer lokaler Ausbrüche übermittelt. Es komme immer wieder zu zeitlich begrenzten regionalen bis bundesweiten Ausbrüchen mit zum Teil langen Infektionsketten.

Masern äußern sich zu Beginn durch Fieber, Schnupfen und Husten. Es folgen die typischen roten, „koplikschen Flecken“: zuerst an der Mundschleimhaut, später im Gesicht und an der Innenseite der Unterarme. Die gefürchtete postinfektiöse Enzephalitis tritt etwa eine Woche nach den Hautflecken auf. Kopfschmerzen, Fieber und Bewußtseinsstörungen bis zum Koma sind die Folgen. Zum Glück sind nur 0,1 Prozent der Erkrankten betroffen, denn für bis zu 20 Prozent von ihnen endet sie tödlich. Für weitere 20 bis 30 Prozent sind bleibende Schäden am zentralen Nervensystem die Folge. Noch Jahre später kann es zu der obengenannten SSPE kommen.

Akteure bezichtigen sich der Datenfälschung

Was ist der richtige Weg gegen Masern? Die Ausrottung der Krankheit ist das erklärte, noch weitentfernte Ziel der Weltgesundheitsorganisation. Das RKI sieht zwischen dem Masernrückgang innerhalb der letzten 40 Jahre und der hohen Durchimpfungsrate der Bevölkerung einen unzweifelhaften Zusammenhang. Kinder sollen nach dem Impfkalender der Ständigen Impfkommission am RKI erstmalig zwischen dem elften und vierzehnten sowie zum zweitenmal im Alter von 15 bis 23 Lebensmonaten geimpft werden. Die Untersuchungen für Säuglinge und Kleinkinder werden in den sogenannten U-Heften dokumentiert. In manchen Bundesländern wie NRW sind sie Pflicht. Die Ärzte müssen das Erscheinen zur „U“ an die zuständige Behörde melden. Wer eine „U“ versäumt oder in der „U“ die Impfung ablehnt, wird Post vom Jugendamt erhalten und um Stellungnahme gebeten. Es droht ein Hausbesuch bei dem Verdacht auf Gefährdung des Kindeswohles. Ärgerlich: Oft vergessen die Ärzte die Meldung einer ordnungsgemäßen Untersuchung – Eltern regen sich dann zu Recht darüber auf, auf dem Radar des Jugendamtes zu erscheinen. Es liegt an den Eltern, in solchen Fällen noch einmal beim Arzt nachzuhaken oder das U-Heft beim Jugendamt einzureichen.

Geimpft wird mit dem Stoff MMR bzw. der Kombinationsimpfung M-M-RVax (gegen Masern, Röteln, Mumps) und MMRTriplovax. Zu den Zusatzstoffen neben den Infektionserregern gehören je nach Mittel unter anderem Gelatine, menschliches Eiweiß und Glutamat.

Die Kontroverse um diese Impfungen reicht an die Grenzen eines Glaubenskrieges in Wissenschaft und Gesellschaft. Studien für das Pro und Contra gibt es viele. Die Akteure bezichtigen sich sogar gegenseitig der Datenfälschung zwecks Erzeugung gewünschter Ergebnisse. Die von ihren Gegnern als Schulmedizin verunglimpfte etablierte Wissenschaft leugnet die Kontraindikationen und Nebenwirkungen der Impfungen nicht: „Impf-Masern“, Fieber, schmerzende Rötungen der Einstichstelle, Schwellung der Ohrspeicheldrüse, wohl selten Hodenschwellungen und Gelenkentzündungen. Nach Ansicht der Schulmedizin ist ein Zusammenhang zwischen Impfungen und Hirnhautentzündungen sowie Autismus nicht erwiesen.

Eltern stecken in einem Dilemma

Ganz anders sehen es Impfgegner wie Ravi Roy, eine Ikone der Homöopathie. In seinem mehrfach neuaufgelegten Klassiker „Kinder mit Homöopathie behandeln“ zieht er gegen den „Impf-aberglauben“ ins Feld. Er geißelt die unnatürlichen Inhaltsstoffe der Impfmittel. Er warnt insbesondere vor kombinierten Impfstoffen, „da es in der Natur nicht vorkommt, daß ein Kind sich gleichzeitig mit zwei oder fünf Krankheiten ansteckt“. Eine ungehindert durchlebte Maserninfektion hält Roy für ungefährlicher als die Nebenwirkungen der Impfungen. Sie stärke im Gegensatz zur immer wieder nötigen Impfauffrischung für den Rest des Lebens. Roy kann für seine Behauptungen ebenso Studien anführen. Er ist nicht weniger überzeugend als der Ärzteratgeber des RKI, wenn auch esoterischer im Ton.

Eltern, die für ihre Kinder das Beste wollen, stecken in einem Dilemma. Zwei Ansichten bekämpfen sich mit dem Schwert der Angst unter dem Schild der Wissenschaften.

Robert-Koch-Institut (RKI): www.rki.de/

Informationen über Masern: www.infektionsschutz.de 

Foto: An Masern erkranktes Kind: Die Zahl der jährlichen Infektionen schwankt – 2015 droht ein Negativrekord

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