© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  11/15 / 06. März 2015

Vom Himmel die Hölle erwecken
Der britische Historiker Richard Overy hat ein imposantes Standardwerk über den gesamten Bombenkrieg des Zweiten Weltkriegs vorgelegt
Horst Boog

Richard Overy hat ein luftkriegsgeschichtliches Meisterwerk über den Bombenkrieg in Europa während des Zweiten Weltkrieges vorgelegt. Es ist epochal, weil hier zum erstenmal die Bombenkriegsführung aller beteiligten Luftmächte dargestellt wurde, wie es nur einem Forscher gelingen konnte, der sich über Jahrzehnte mit diesem Gegenstand befaßt hat. Und es ist monumental wegen der Breite und Tiefe der Untersuchungen.

Von den Anfängen der Bombenfliegerei im Ersten Weltkrieg reicht der Stoff bis zu den Atomkriegsüberlegungen zu Anfang des Kalten Krieges. Der Bombenkrieg wird nicht nur, wie bisher in wissenschaftlichen Darstellungen meist üblich, von der obersten politisch-militärischen Führungsebene aus behandelt, sondern querschnittartig auch von technisch-taktischen und situativen Überlegungen her, von den Folgen für die und den Reaktionen der Zivilbevölkerung her und den jeweiligen Luftschutzmaßnahmen in den einzelnen Ländern.

Overy besticht durch Sachlichkeit und Fairneß

Dazu hat der Autor aus einer unglaublich großen Zahl dokumentarischer Quellen sehr verläßliche Opfer- und Schadenszahlen herausgefiltert, die seinen Ergebnissen und Schlüssen die nötige Stabilität geben. Es ist eine ungemein faszinierende Darstellung, die nicht nur wichtige Politiker und Militärs zu Worte kommen läßt, sondern auch unbekannte vom Bombenkrieg betroffene Zivilisten. Sie besticht durch den bisher umfassendsten Zugriff zum Thema, durch schonungslose Offenlegung von im Kriege aus propagandistischen Gründen unterdrückten Tatsachen, durch sehr bemerkenswerte Sachlichkeit und Ausgewogenheit sowie außerordentliche Fairneß in der Beurteilung oder Verurteilung militärischer Handlungen. Overy moralisiert nicht mit erhobenem Zeigefinger.

Das Buch behandelt zunächst kurz den Bombenkrieg im Ersten und vor dem Zweiten Weltkrieg, wobei schon die ersten übertriebenen, auch dem Unabhängigkeitsstreben von Luftmacht als Teilstreitkraft dienenden Erwartungen über die kriegsentscheidende Rolle der Bomber wie etwa bei der englischen Independent Air Force oder bei Luftkriegstheoretikern wie Giulio Douhet und Robert Knauss auftauchen, der allerdings nicht ausdrücklich genannt wird.

Es folgt der erste von zwei umfangreichen Teilen, der Deutschlands Bombenkrieg gegen Polen, im Westfeldzug und natürlich vor allem gegen England mit allen Folgen für die dortige Zivilbevölkerung und den Aufbau des Zivilschutzes behandelt sowie den Einsatz der Luftwaffe im Ostfeldzug. Der zweite Teil, überschrieben als „Die größte Schlacht: Alliierte Bomber über Europa“, bringt die allmähliche Entwicklung des britischen Bomber Command zu einer effektiven Waffe unter Arthur Harris sowie die Operationen der verschiedenen amerikanischen Army Air Forces gegen Deutschland, im Mittelmeer und gegen Italien. Deutlich werden hier die übertriebenen Erwartungen, die Mussolini mit seinem Kriegseintritt im Juni 1940 verband, und in der Folge absolut ungenügenden und chaotischen Luftverteidigungs- und Luftschutzmaßnahmen der Italiener.

Die Problematik, Ziele in den zu befreienden Ländern unter Inkaufnahme erheblicher Zivilverluste bombardieren zu müssen, und die daraus folgenden zwiespältigen Reaktionen der Einwohner kommen bei der Darstellung der Auswirkungen des Bombenkrieges zumeist in den letzten Kriegsjahren in Holland, Belgien, Frankreich, Italien und den Bal-kanländern zum Ausdruck. Der deutschen Gesellschaft unter den Bomben wird ein umfangreiches Kapitel voller Details gewidmet, die eine außerordentliche Kenntnis der innerdeutschen Verhältnisse und Wertschätzung für das Verhalten der Bevölkerung verraten.

Ein besonderes Merkmal von Overys Darstellung des Bombenkrieges über Europa ist der häufige Hinweis, daß sich die deutsche Luftwaffe (gemäß ihrer Druckvorschrift LDv. 16 von 1935) bis in das letzte Kriegsjahr hinein und unter Inkaufnahme von sogenannten Nebenschäden – wie andere Luftmächte auch – bemühte, vor allem militärisch relevante Objekte wie Flughäfen, Hafenanlagen, Rüstungsfabriken usw. zu bombardieren oder eben militärische Ziele im Frontgebiet – war sie doch zuallererst eine auf die Heeresunterstützung ausgerichtete Waffe.

Andererseits wird Overy nicht müde zu betonen, daß es der Royal Air Force laut ihrer Einsatzdoktrin schon von 1928 (Air Publication 1300: Royal Air Force War Manual, Part I: Operations) um den Kampf gegen die feindliche Moral ging, denn Kriege der Zukunft seien Kriege zwischen Völkern, wobei man im industriellen Zeitalter bei der vielfältigen Arbeitsteilung kaum noch zwischen Zivil und Militär unterscheiden könne. Hinter der feindlichen Moral stand nicht zuletzt die Zivilbevölkerung. Erst in zweiter und dritter Linie folgten Wirtschaft, Industrie und Militär usw. Unter der Zivilbevölkerung befanden sich die Arbeiter, die in den Fabriken die Waffen herstellten. Sie sollten in ihren Betten angegriffen werden können.

Moral war dabei nicht ethisch gemeint. Sie bezog sich vielmehr auf Widerstandskraft der Bevölkerung und wurde deshalb auch „morale“ geschrieben wie im Begriff des „Morale Bombing“. Leider erwähnt Overy die Dienstvorschrift nicht, spricht sie aber immer wieder an, wenn er die in der Vorkriegs-und ersten Kriegszeit hin und wieder in der britischen Führung auftauchenden ethischen Bedenken gegenüber einer solchen Bombenkriegführung erwähnt. Diese Vorbehalte verstummten letztlich aber mit der Übernahme des Bomber Command durch Luftmarschall Harris.

In der deutschen Luftwaffe galt demgegenüber das Verbot von bewußten Angriffen auf die Zivilbevölkerung außer als völkerrechtlich erlaubte Repressalie. Die Engländer lehnten mit einer Erklärung vom 18. April 1941 ihrerseits Repressalienangriffe ab, denn wenn Deutschland im Luftkrieg einlenkte, hätten auch sie das tun müssen und wären ihres einzigen Instrumentes, gegen Deutschland direkt zurückzuschlagen, verlustig gegangen. Die Amerikaner hatten Einsatzprinzipien in ethischer Hinsicht ähnlich wie die deutsche Luftwaffe.

Aber aus den verschiedensten Gründen trafen sich die wichtigsten Luftmächte gegen Kriegsende alle auf dem niedrigsten gemeinsamen Nenner, dem des Terrorbombenkrieges, was Overy in den Einzelfällen nachweist. Überdies wiederholt Overy mehrmals, daß im Ersten wie im Zweiten Weltkrieg meist die Engländer mit dem Bombenkrieg begonnen hätten, und sieht die deutschen Bombardierungen von Guernica, Warschau, Rotterdam und Coventry als unter dem damaligen „ius in bello“ legitim an, jedenfalls verurteilt er sie nicht als Terrorangriffe, als die sie in Deutschland gegenwärtig oft dargestellt werden.

Bombenkrieg ist allein niemals kriegsentscheidend

Die das ganze Buch durchziehende Hauptthese Overys lautet, daß der Bombenkrieg allein und ohne Ergänzung durch die Erdoperationen und den Seekrieg nicht kriegsentscheidend war und daß der von manchen gehegte Traum, man könne allein durch Luftbombardements einen Krieg gewinnen, nichts weiter als eine große Illusion, eine Fehlkalkulation war, denn weder in England noch in Deutschland ließ sich der Widerstandswille der Zivilbevölkerung brechen, noch waren die Bombenwürfe genau genug (am genauesten waren sie laut Overy anfangs noch bei der deutschen Luftwaffe), um die erwarteten Effekte zu erzeugen oder eine schnelle Schadensbeseitigung zu verhindern. Man wich in Deutschland und Italien der Bombenwirkung auch durch Untertageverlagerung der Rüstungswerke aus. Der gegen das humanitäre Völkergewohnheits- bzw. gegen das Kriegsrecht verstoßende unterschiedslose Bombenkrieg gegen die Zivilbevölkerung habe im Gegenteil deren Widerstandswillen noch verstärkt – insbesondere in Diktaturen wie Deutschland und der Sowjetunion.

Bedenkt man, wie schnell die deutsche Rüstungswirtschaft ab etwa Mitte 1944 durch die alliierte Treibstoff- und Transportoffensive gegen Benzinwerke und Engstellen des Eisenbahnverkehrs und der Wasserwege zusammenbrach, nachdem die Jäger – nicht die Bomber – die Luftherrschaft über Deutschland errungen hatten, so sollte man den Bombenkrieg vielleicht ein bißchen weniger skeptisch beurteilen. Overy spricht zwar die indirekten, durch den Bombenkrieg erzeugten Folgen an wie zum Beispiel das Fehlen von schweren, für die Luftverteidigung nötigen Flakgeschützen für die Panzerbekämpfung an der Ostfront, die Verwendung wichtiger Materialien wie etwa Aluminium für Flakzünder und elektronische Geräte für die Luftverteidigung statt für Flugzeuge oder die von Speer später als größte Fehlentscheidung bezeichneten V-Waffen, den Ausfall von Arbeitsstunden wegen Fliegeralarms usw. Vielleicht könnten diese Faktoren höher bewertet werden. Angesichts der dennoch gewaltigen Bombenschäden liest man am Ende des Buches mit Erstaunen, daß die Luftmächte trotz ihrer Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg zu Beginn des Kalten Krieges den Atomkrieg planten.

Es scheint heute so zu sein, daß uns Deutschen die Historiker anderer Nationen – sei es nun der Australier Christopher Clark bezüglich des Ersten Weltkrieges oder Overy in puncto Luftkrieg – zu sachlich-realistischem und ausgewogenem Denken über unsere Vergangenheit und uns selbst zurückführen müssen. So glauben doch viele Menschen in Deutschland – und auch manche Historiker unter der Last der Erinnerung an die NS-Verbrechen, immer noch feindlicher, kriegspropagandistischer Klischeevorstellungen, wie jener von der deutschen Luftwaffe als Terrorluftwaffe. Dabei macht sich wohl auch der Mangel an einer Tradition des Pragmatismus und die Vorliebe an einem Denken in idealistisch-ideologischen Schwarz-Weiß-Kategorien bemerkbar. Zahlreiche englische und amerikanische Historiker und Politiker wir Crook, Longmate, Sir Basil Collier, Noble Frankenland, Corum oder Spaight haben schon vor Jahrzehnten anhand von Einzelbeispielen auf das den Kriegsregeln entsprechende Verhalten der deutschen Luftwaffe hingewiesen.

Gerade Richard Overy betont nun immer wieder, wie die Ereignisse kriegspropagandistisch zur Herabsetzung des Feindes und Hebung des eigenen Kampfgeistes verfälscht wurden, was zwar alle Kriegsparteien taten, jedoch besonders in Deutschland nachwirkt. Overy ist – jedenfalls für den Luftkrieg – das wichtigste Glied einer Wende der historisch auf einer Schuldfixierung festgelegten Geschichtsbetrachtung. Sicherlich korrigiert er damit auch manches Urteil im Denken der Engländer über uns Deutsche. Deshalb gilt Richard Overy ein besonderer Dank für sein grandioses, bahnbrechendes Werk.

 

Dr. Horst Boog war leitender wissenschaftlicher Direktor am Militärgeschichtlichen Forschungsamt (MGFA) in Freiburg. Er ist Herausgeber der Bände „Luftkriegführung im Zweiten Weltkrieg. Ein internationaler Vergleich“ (1992) und Verfasser von Beiträgen zum Luftkrieg in den Bänden 4, 6, 7 und 10 der MGFA-Reihe über den Zweiten Weltkrieg.

Richard Overy: Der Bombenkrieg. Europa 1939 bis 1945. Rowohlt Verlag, Berlin 2014, gebunden, 1.053 Seiten, Abbildungen, 39,95 Euro

Foto: US-Bomber über einer deutschen Stadt: Die wichtigsten Luftmächte trafen sich gegen Kriegsende völkerrechtlich alle auf dem niedrigsten gemeinsamen Nenner

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