© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  11/15 / 06. März 2015

Die Strahlkraft großer Literatur
Sinnentleerung: Zwei US-Philosophen bemühen sich um Sinnstiftung durch neue Lektüre kanonisierter Werke
Felix Dirsch

Wenn man, ausgehend von dem vieldiskutierten Roman „Infinite Jest“ (Unendlicher Spaß) von David Foster Wallace, einen chronologisch äußerst weiten Bogen von Homer über Aischylos und Augustinus, von dort zu Dante und Kant bis hin zu Melvilles „Moby-Dick“ und zur unmittelbaren Gegenwart schlägt – welche Gemeinsamkeiten dieser Erzähltraditionen lassen sich feststellen? Nun, alle diese Autoren versuchen, so etwas wie den Sinn von Leben und Dasein in ihrer Epoche zu ergründen und zu beschreiben.

Die Verfasser der Studie „Alles, was leuchtet“, Hubert Dreyfus und Sean Dorrance Kelly, haben sich bei ihrer Reise durch den abendländischen Bildungskosmos einiges vorgenommen. Für die amerikanischen Philosophiedozenten steht ein praktisches Erkenntnisinteresse im Vordergrund: Sie rekonstruieren die Gebirgsmassive der abendländischen Geistesgeschichte vor der Folie des im 20. Jahrhundert grassierenden Nihilismus, der von großen Geistern bereits im 19. Jahrhundert prophezeit worden war. Insofern wollen die beiden Gelehrten bleibend wichtige Gedanken großer literarischer Entwürfe herausdestillieren, um ein Antidotum gegen den verbreiteten Orientierungsverlust und die weithin fehlenden verbindlichen Ligaturen zu finden. Ein ehrgeiziges Unterfangen, das eine genaue Kenntnis der betreffenden Werke voraussetzt.

Was Nihilismus auf dem Feld der Literatur konkret bedeutet, wird in Wallace’ „Infinite Jest“ sichtbar. Dort wird nicht, wie in vielen Meistererzählungen, die Gottesfrage thematisiert; vielmehr findet eine zentrale Auseinandersetzung mit den vielfältigen Zerstreuungsmöglichkeiten unseres Zeitalters statt, von Süchten über konsumistische Einstellungen bis hin zum Tennisspiel. Ähnliches läßt sich über die stark rezipierten Schriften von Elisabeth Gilbert sagen, deren Memoiren „Eat, Pray, Love“ ein internationaler Megaerfolg wurden. Dreyfus und Dorrance Kelly stellen also das heraus, was in den USA „a fucking human being“ genannt wird.

Vor dem Hintergrund der neuzeitlichen, primär technikinduzierten Entzauberung, die in der Gegenwart ihren Höhepunkt erfährt, mutet das göttererfüllte Universum des Homer wie ein diametraler Kontrast an. In dessen mythologischen Geschichten sind die Omnipotenz-Phantasien der Götter relativiert durch ihre Konkurrenz und polytheistische Vielfalt.

Frappierend aus heutiger Sicht ist, wie sehr das Schicksal der Menschen von den himmlischen Vätern und Müttern abhängig ist – ganz im Gegensatz zum modernen Verantwortungszwang, der von Kant gewissermaßen inauguriert und von Sartre auf die Spitze getrieben worden ist. Bei Dante taucht noch einmal, diesmal unter christlichen Vorzeichen, die Faszination der symbolischen Bedeutungshierarchie auf; das hochmittelalterliche Wissen wird plastisch-komprimiert dargelegt. Er ist empfänglich für die Liebe, die Mond und Sterne bewegt. Alles besitzt seinen fixierten Ort in der sichtbaren wie unsichtbaren Welt. Luther ist einer der ersten Modernen, die mit derartigen Abstufungen nichts mehr anzufangen wissen.

Bei ihrem Gang durch die neuzeitliche Literaturhistorie interessieren sich die Autoren besonders für Melvilles öfter zum Jugendbuch degradierten Prosawerk „Moby-Dick“. Mit Kapitän Ahab, dessen Namen nicht von ungefähr alttestamentliche Bezüge trägt, steht ein monomanischer Walfänger im Mittelpunkt. Während diese Gestalt letzte, metaphysische Wahrheiten sucht, leugnet Melville, daß es solche gibt. Hier findet sich Kritik am Monotheismus, die von Dreyfus und Dorrance Kelly geteilt wird. Der Leser ist ein Stück weit an Jan Assmanns diesbezügliche Anmerkungen erinnert, die den Code von Wahrheit und Unwahrheit der Ein-Gott-Religionen einer Prüfung unterziehen.

Was lernt man aus derartigen klassischen Lektüren? Wann und wo stellen sich heute sinnstiftende, leuchtende Momente ein? Läßt sich das Vakuum füllen? Ein konsensfähiges Surrogat für die Götter, die wir „rausgeschmissen“ haben, ist schwierig zu finden. Das wissen auch Dreyfus und Dorrance Kelly. Empfohlen wird ein poietisches Verständnis vom Heiligen. Gemeint ist damit ein säkularer Polytheismus, der ein spezielles Gefühl generieren kann: nämlich die Welt zu kultivieren und die notwendigen Kunstfertigkeiten zu entwickeln.

Natürlich dürften solche Vorschläge niemanden vom Hocker reißen. Hier werden die Grenzen selbst einer exzellenten Monographie sichtbar. Immerhin haben die Verfasser das Problem erkannt und den Finger in die Wunde gelegt. Angesichts der evidenten Schwierigkeiten bei der Lösung des weithin dominanten Sinndefizits mutet es freilich etwas simplifizierend an, wenn die Untersuchung am Ende konstatiert, die gegenwärtige Welt sei eine „wundervolle Welt der leuchtenden Dinge“. Ohne Zweifel ist hier der Wunsch der Vater des Gedankens.

Hubert Dreyfus /Sean Dorrance Kelly: Alles, was leuchtet. Wie große Literatur den Sinn des Lebens erklärt, Ullstein, Berlin 20 14, gebunden 363 Seiten, 19,99 Euro

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