© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  11/15 / 06. März 2015

Warten auf den Moskau-„Maidan“
Rußland: Der Mord an dem Oppositionspolitiker Boris Nemzow erschüttert nicht nur bürgerlich-liberale Russen
Thomas Fasbender

Was eine Großdemonstration der liberalen Opposition hätte werden sollen, geriet zu einem Trauermarsch. Noch am Freitag hatten die Organisatoren des Protestzugs „Wesna“ (Frühling) mit der Moskauer Stadtverwaltung um den Veranstaltungsort gerungen. Das Stadtzentrum war ihnen verweigert worden. Nur in Marino, einer Schlafstadt im Südosten, durften die erwarteten Fünfzig- oder Hunderttausend ihren Demonstrationszug abhalten.

Am Samstag war dann alles Makulatur. Eine halbe Stunde vor Mitternacht, buchstäblich einhundert Meter vor der Kremlmauer, starb der langjährige Putin-Kritiker und Co-Organisator des Wesna-Marschs Boris Nemzow auf der Brücke, die den Roten Platz mit den südlichen Vorstädten verbindet. Keine fünfzig Meter entfernt hatte der Deutsche Mathias Rust im Mai 1987 seine Cessna 127 zum Stehen gebracht.

Zeitliche Nähe zur Großdemonstration fällt auf

Für Moskauer Verhältnisse ist es eine milde Vorfrühlingsnacht. Mit seiner 32 Jahre jüngeren Freundin, einem ukrainischen Model, hat Nemzow zu Abend gegessen; ohne Leibwache spazieren die beiden dann über die Moskwa in Richtung seines Penthouse im Süden der Stadt.

Da taucht aus dem Nichts ein Mann in ihrem Rücken auf, drückt sechsmal auf den Abzug einer Makarow-Pistole und läuft auf die Fahrbahn, wo ein scharf bremsender weißer Pkw ihn aufnimmt und davonrast. Zurück bleiben der tote Nemzow, seine unverletzte Freundin und ein Müllwagen.

Der Schock saß tief. Ob Putin-Kritiker oder Putin-Versteher – am Samstag morgen war der Schrecken der 1990er von neuem greifbar. Seit 2003 war kein prominenter Politiker ermordet worden; damals traf es einen Duma-Abgeordneten. Nemzow war ein ehemaliger stellvertretender Ministerpräsident. Ob Oppositionspolitiker oder nicht, er gehörte zum Moskauer Establishment. Die junge Freundin, die große Wohnung, ein mondäner Lebensstil – glaubt man der Moskauer Boulevardpresse, so bestand sein letztes Mahl aus Austern und Lachstatar.

Nemzow war kein Außenseiter, kein Revolutionär. Der Mann lebte den Männertraum der russischen Gegenwart. Oppositioneller zu sein machte alles nur interessanter.

Für Putin war er weder Konkurrent noch Gefahr. Jemand wie Alexej Nawalnij, den man vor der eigentlich geplanten Demonstration vorsorglich zu 15 Tagen Arrest verdonnert hat – der ist von anderem Kaliber. Aber so töricht, ausgerechnet Nemzow zu ermorden, dazu in Rufweite des Kreml, sollte man sich die Mächtigen nicht vorstellen.

Seitdem fragen die Analysten: Wen hat der Politiker gegen sich aufgebracht? Einige Korrumpierte im Jaroslawler Gebiet, wo er bis zuletzt Parlaments-abgeordneter war? Bisher ist nichts Nennenswertes bekannt. Ging es um bevorstehende Enthüllungen russischer Verstrickungen in der Ostukraine? Waren es die Tschetschenen, die er mit seinem Eintreten für Charlie Hebdo und gegen fundamentalen Islamismus beleidigt hatte?

Was ins Auge sticht, ist die zeitliche Nähe zu der geplanten Großdemonstration. Nemzows Charisma war das einer Symbolfigur der bürgerlich-liberalen Opposition. Seit Monaten hängt die Erwartung eines Moskauer „Maidan“ in der Luft. Nicht zuletzt mit Unterstützung der Regierungspartei „Einiges Rußland“ wurde eine Bewegung „Anti-Maidan“ aus dem Boden gestampft, die zwei Wochen vor dem Nemzow-Trauermarsch in Moskau rund 35.000 Teilnehmer auf die Beine brachte.

Russische Kommentatoren sind überzeugt, daß nicht nur liberale Demokraten auf einen Moskauer „Maidan“ hoffen. Nicht wenige glauben, daß Putins Gegner innerhalb und außerhalb des Apparats, vor allem solche auf der extremen Rechten, nur darauf warten, den Unwillen der urbanen Mittelschicht als Katalysator einer Machtübernahme zu nutzen.

Möglich ist daher auch eine andere Entwicklung. Die Fühler der bürgerlichen Opposition reichen tief in Kreml, Apparat und Regierung hinein. Auch der Präsident hat die längste Zeit über zentristische Positionen eingenommen.

Bei allem zur Schau gestellten Konservatismus weiß Putin, daß er im Bündnis mit den Ideologen von rechts nicht viel zu gewinnen hat. Vor allem nicht, wenn die sich auch noch mit dem nordkaukasischen Staatsislamismus vereinen.

Foto: Trauerzug in Moskau für Boris Nemzow: Plakate mit dem Motto „Diese Kugeln zielen auf jeden von uns“ finden derzeit reißenden Absatz

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