© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  11/15 / 06. März 2015

Good bye, Latin!
Bildungspolitik: In Niedersachsen geht es den Gymnasien an den Kragen. Die rot-grüne Landesregierung hat den Schulfrieden beendet
Christian Vollradt

Stolz präsentiert das „Martino-Katharineum“ dieser Tage sein Gründungsdokument: eine päpstliche Urkunde, ausgestellt auf dem Konzil von Konstanz und datiert vom 24. Februar 1415. Dem Rat der Stadt Braunschweig wurde darin kraft apostolischer Autorität genehmigt, den bürgerlichen Nachwuchs – ohne Einfluß des Klerus – an einer Lateinschule auszubilden.

Natürlich gibt es in Deutschland weitaus ältere Gymnasien, doch das „MK“ gehört zweifelsohne zu den traditionsreichsten. Auf der Liste berühmter Absolventen stehen der Komponist Louis Spohr, der Mathematiker Carl Friedrich Gauß, der „Erfinder“ des Fußballs in Deutschland, Konrad Koch sowie – als einer der bekanntesten – der Dichter und Autor unserer Nationalhymne, August Heinrich Hoffmann von Fallersleben. Während die Stadt also geschichtsbewußt derzeit das 600jährige Jubiläum feiert, ist durchaus ungewiß, ob diese Schule auch noch in 60 Jahren bestehen wird. Und das liegt unter anderem an der rot-grünen Landesregierung von Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) – ausgerechnet jenes Politikers, der vergangene Woche noch in einem Grußwort an die ruhmreiche Vergangenheit des Martino-Katharineums erinnert hatte.

Langgehegte linke Wünsche werden verwirklicht

Denn Weils Kabinett hat im Februar den Entwurf eines „Gesetzes zur Änderung des Niedersächsischen Schulgesetzes“ beschlossen, und in erster Lesung bereits durch den Landtag gepeitscht. Ehrgeiziges Ziel: Das neue Gesetz soll schon ab dem kommenden Schuljahr, also bereits nach den Sommerferien gelten. Die zunächst für alle betroffenen Schüler – alle, die ab dem Schuljahr 2015/2016 die Klassen fünf bis acht besuchen – spürbarste Änderung wird die Rückkehr zum Abitur nach 13 Schuljahren sein (wobei Begabten durch Überspringen von Klasse 12 auch ein früheres Abitur ermöglicht werden soll). Damit wäre Niedersachsen das erste Bundesland, welches das „Turbo-Abitur“ (G8) wieder abschafft. Ein Volksbegehren mit demselben Ziel ist in Hamburg gerade gescheitert.

Die wichtigste und zugleich am meisten kritisierte Änderung betrifft die rechtliche Stellung der Integrierten Gesamtschule. Sie wird von einer sogenannten Angebots- zur Regelschule aufgewertet. Das heißt, daß sie andere Formen des gegliederten Schulwesens (Haupt- und Realschulen sowie Gymnasien) ersetzen kann, anstatt lediglich als Zusatzangebot zu bestehen. Wörtlich heißt es im Gesetzentwurf: „Im Rahmen der Regelungen der schulorganisatorischen Maßnahmen werden die Voraussetzungen zum Führen der Gesamtschule rechtlich an die der Oberschule als weitere ersetzende Schulform angeglichen. Die Schulträger werden künftig von der Pflicht befreit, neben der Gesamtschule noch alle Schulen des gegliederten Schulwesens vorhalten zu müssen.“

Genau dieser Satz ist es, der die Gegner der rot-grünen Schulreform auf die Barrikaden treibt. Zwar heißt es, ein Gymnasium müsse „unter zumutbaren Bedingungen“ erreichbar bleiben. Doch als zumutbar gilt ein Fahrtweg von jeweils 60 bis 75 Minuten. Mit anderen Worten: Die Kinder und Jugendlichen wären dann bis zu zweieinhalb Stunden pro Tag unterwegs, nur um zur Schule und wieder nach Hause zu kommen.

Klar, daß im Unterschied zu den politisch dafür Verantwortlichen die meisten Eltern ihrem Nachwuchs so etwas nicht zumuten möchten – und deshalb die nähere Gesamtschule vorziehen würden. Quasi hintenrum und peu à peu, so kritisieren Lehrer- und Elternverbände, werde das gegliederte Schulsystem abgeschafft – ein lange gehegter Wunsch linker Bildungspolitiker. Verbunde von Grund- und Gesamtschulen könnten gerade in ländlichen Regionen für Eltern deutlich attraktiver sein als das weiter entfernt liegende Gymnasium, befürchten die Kritiker. Den Gesamtschulen werde dadurch also mit unfairen Mitteln ein Wettbewerbsvorteil verschafft.

Die vermeintliche Garantie für das Gymnasium im neuen Schulgesetz sei das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt wurde. Was geschehe beispielsweise, wenn etwa durch die Gründung einer neuen Gesamtschule ein Gymnasium mangels Zuspruch geschlossen werden müsse? Erhöht sich dann die „zumutbare“ Entfernung zu einem (anderen) Gymnasium – oder müssen die Schüler quasi gezwungenermaßen auf eine Gesamtschule wechseln?

Zwei von drei Gymnasien stünden vor dem Aus

Deswegen haben der Philologenverband, die Standesvertretung der Gymnasiallehrer, und der Verband der Elternräte der Gymnasien Niedersachsens in einer gemeinsamen Erklärung die rot-grünen Pläne als akute Gefährdung des Schulfriedens bezeichnet. „Wir werden mit Protesten nicht lockerlassen bis zum letzten Tag“, kündigte Elternvertreterin Petra Wiedenroth einen harten Widerstand an, wenn die Kultusministerin Frauke Heiligenstadt (SPD) ihr Vorhaben tatsächlich bis Juni durch den Landtag in Hannover bringen will. Offenbar haben die Kritiker die Mehrheit im Land dabei hinter sich. Laut einer Umfrage sind nur 20 Prozent der Niedersachsen für die Schulpolitik von Rot-Grün. Elternräte und Philologenverband haben eine entsprechende Online-Petition eingerichtet, die bereits über 10.000 Unterstützer gefunden hat.

Auch die Opposition im Landtag zieht gegen das neue Schulgesetz zu Felde. Als einen Rückfall in die verfehlte Schulideologie der siebziger Jahre wertet die Union das Vorhaben. „Unsere Schulen in Niedersachsen sind keine Versuchslabore“, betont CDU-Bildungssprecher Kai Seefried und macht klar: „Wir wollen keine Einschränkung der Wahlfreiheit der Eltern bei der Auswahl der besten Schulen für ihr Kind.“

Für seinen FDP-Kollegen Björn Försterling war die „Gefahr für die Gymnasien noch nie so groß wie heute“. Die niedersächsischen Liberalen haben bereits errechnet, daß unter den laut Kultusministerium „zumutbaren“ Bedingungen das ganze Bundesland mit nur noch dreißig Gymnasien auskommen würde. Damit stünden 150 Exemplare dieser Schulform vor dem Aus. „Wir bekommen die Einheitsschule, und das kostet die Steuerzahler im ersten Schritt laut Rot-Grün auch noch fast 13 Millionen Euro“, kritisierte Försterling.

Den Vorwurf, die Schulvielfalt werde zugunsten der Gesamtschulen abgeschafft, nannte Ministerin Heiligenstadt dagegen während der Landtagsdebatte „absurd“. Umgekehrt hänge die Opposition „einer rückwärtsgewandten Bildungsideologie nach“, sagte die SPD-Politikerin. Anders als von den Kritikern behauptet, werde das Gesetz die Bildungschancen für alle Schüler erhöhen.

Letztlich beweist diese Auseinandersetzung, wie illusorisch der Glaube der schwarz-gelben Vorgängerregierung war, man habe mit dem 2010 verabschiedeten Gesetz den Schulfrieden in Niedersachsen langfristig gerettet. Damals war als neue Schulform die „Oberschule“ eingeführt worden, eine Mischung aus Haupt- und Realschule (also eine Gesamtschule en miniature). Dies sollte vor allem angesichts sinkender Schülerzahlen und nachlassender Nachfrage nach der Hauptschule Abhilfe schaffen. Doch die Sozialdemokraten ließen sich dadurch mitnichten von der Forcierung ihres bildungspolitischen Lieblingsprojekts abhalten: der Aufwertung der Integrierten Gesamtschule. Mit dem Machtwechsel 2013 kam ihre Zeit.

Dem Vorsitzenden des niedersächsischen Philologenverbands, Horst Audritz, zufolge wird „die Schließung von Gymnasien eskalieren“ – allein schon wegen der absehbaren Neugründung von landesweit 50 Gesamtschulen. Wenn angesichts des demographischen Wandels die Schülerzahlen von aktuell etwa 851.000 auf 763.000 im Jahr 2020 sinken, sieht die Zukunft für eine vielfältige Schullandschaft alles andere als rosig aus.

Für den Pädagogen Audritz geht es dem leistungsorientierten Gymnasium allerdings auch aus anderen Gründen an den Kragen. Und das liegt am Wegfall der sogenannten Laufbahnempfehlung am Ende der Grundschulzeit. Viertkläßler sollen künftig keine schriftliche Empfehlung mehr für den Besuch einer weiterführenden Schule (Haupt- und Realschule sowie Gymnasium) bekommen. Stattdessen sind für Eltern zwei Beratungsgespräche vorgesehen, die wiederum nicht verpflichtend wahrgenommen werden müssen. Laut Ministerin Heiligenstadt werde so „der nicht kindgerechte Leistungsdruck aus dem Primarbereich genommen“.

Immer mehr Kinder wollen und gehen aufs Gymnasium

Damit entfällt auch der automatische Schulwechsel, wenn zum Beispiel ein Kind mit einer Realschulempfehlung auf ein Gymnasium geht und zweimal die sechste Klasse nicht geschafft hat. Bisher mußte es dann das Gymnasium verlassen. „Kommt bald die Abschaffung der Note? Folgt bald ein Aufnahmezwang für Gymnasien?“ seien die Fragen, die sich seine Kollegen stellten, meinte der Philologenchef.

Was dem Gymnasium gefährlich wurde und noch immer wird, ist letzten Endes gerade seine Attraktivität. Denn es ist die mit Abstand beliebteste Schulform. Allein in Niedersachsen wechselten im Schuljahr 2014/15 wieder 42,4 Prozent aller Schüler des fünften Jahrgangs auf ein Gymnasium. Im Vergleich dazu wurden 15,2 Prozent der Grundschulabsolventen auf einer Integrierten Gesamtschule eingeschult (21,2 Prozent auf eine Oberschule). Nur noch 4,7 Prozent der Jungen und Mädchen gingen in die fünfte Klasse einer Hauptschule – und das, obwohl wesentlich mehr von ihnen, nämlich 20,2 Prozent, genau diese Schulart von den Lehrern empfohlen worden war. Ähnlich das Bild bei der Realschule: 38,6 Prozent der Grundschulabsolventen hatten eine Realschulempfehlung, jedoch nur noch 15,8 Prozent folgten ihr.

Vor allem Schüler mit Haupt- und Realschulempfehlungen gehen – nicht zuletzt wegen des gesunkenen Images dieser Schularten – vermehrt auf Gesamtschulen. Diese jedoch sollen (und wollen) für ihren internen Proporz künftig möglichst viele Schüler mit Gymnasialempfehlung haben. Der Trick ist also, das Gymnasium als Konkurrenz zu schwächen – und sei es durch eine faktisch unzumutbare Entfernungszumutbarkeit.

Die Kontroverse über die Zukunft des gegliederten Schulsystems sowie eine strukturelle Schlechterstellung der Gymnasien ist momentan in Nieder-sachsen besonders zugespitzt, allerdings kein Alleinstellungsmerkmal in Deutschland. Eine ähnliche Auseinandersetzung liefern sich Regierung und Opposition zur Zeit auch anderswo, etwa in Baden-Württemberg. Dort hatte die grün-rote Landesregierung die Gemeinschaftsschule als neue Schulform eingeführt, die analog zur Oberschule im Norden eine Mischung aus Haupt- und Realschule ist. Landesweit gibt es inzwischen 271 solcher Gemeinschaftsschulen, an denen unter bestimmten Umständen sogar ein Abitur erworben werden kann. Die Südwest-CDU wirft Kultusminister Andreas Stoch (SPD) vor, die Gemeinschaftsschulen würden mit Geld und Stellen unterstützt, andere Schularten dagegen massiv benachteiligt.

Während die Zukunft der Gymnasien – zumindest in Niedersachsen – Spitz auf Knopf steht, konnte eine andere Schulform vor dem rot-grünen Reformfuror gerettet werden. Denn ausgerechnet beim heiklen Thema Inklusion mußte Kultusministerin Heiligenstadt einen peinlichen Rückschlag hinnehmen. Ursprünglich wollte sie die gesonderten Sprachförderschulen abschaffen. Doch diese haben nun aufgrund von massiver Kritik vor allem seitens betroffener Eltern einen Bestandsschutz erhalten und können weitergeführt werden. Ein bezeichnendes Beispiel in der „Bildungsrepublik“ Deutschland. Und vielleicht auch ein hoffnungsvolles – möglicherweise sogar für die kommenden 600 Jahre.

 

Immer mehr haben Abi

Die Abiturientenquote in Deutschland steigt. Haben unter den heutigen Senioren (65 Jahre und älter) weniger als 15 Prozent die Hochschulreife erlangt, ist es in der Altersgruppe der 25- bis 35jährigen schon fast die Hälfte.

Zudem verbesserte sich in jüngster Zeit die Durchschnittsnote der Abiturienten. Der Anteil der Einser-Abis ist allein zwischen 2006 und 2012 bundesweit um vierzig Prozent gestiegen – auf insgesamt 4.600 Schüler. Bildungsforscher bemängeln daher eine Noteninflation. Das Abitur werde immer leichter – und damit schleichend entwertet.

Foto: Portal eines Gymnasiums, Abbrucharbeiten (Fotomontage): Laut Inschrift „Gott und der fleißigen Jugend“ gewidmet – allerdings wie lange noch?

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