© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/15 / 27. Februar 2015

Thalers Streifzüge
Thorsten Thaler

Huxleys Neue Welt“ ist als Veranstaltungsort in Berlin eine Institution, ihre wechselvolle Geschichte reicht bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zurück. In der Vergnügungsstätte am Rande der Hasenheide spielten anfangs Militärkapellen auf, später dann mit der Popularisierung von Beat-, Rock- und Popmusik traten hier Größen wie Jimi Hendrix, Manfred Mann und die Dire Straits auf. Heute gastieren im „Huxleys“ vor allem Hardrock- und Metalbands; zuletzt besuchte ich dort mit Freunden die Konzerte der schwedischen Bands Sabaton und Hammerfall. Zwei famose Ereignisse, die lange nachhallen und die Lebensgeister stärken.

Dieser bezaubernde Moment, wenn du frühmorgens vor die Haustür trittst, es noch Minusgrade hat und Reif auf den Wegen liegt, aber schon die Sonne lacht, hoch droben am wolkenlosen Himmel ein großer Vogelschwarm in V-Formation aus dem Süden zurückkehrt und die kühle klare Luft nach Frühling riecht.

Worauf ich vor den Konzertbesuchen im „Huxleys“ nicht gefaßt war: Es sollten zwei wundersame Zeitreisen werden. Wer die in den Veranstaltungssaal im ersten Stockwerk führende Treppe hochsteigt, bewegt sich gleichsam wie durch ein Wurmloch in eine Parallelwelt. In diesem Metalkosmos scheint die Zeit in den späten 1970er Jahren beziehungsweise den Achtzigern stehengeblieben zu sein. Das mag bei großen Hallen- oder Stadionkonzerten anders sein, aber hier fühle ich mich in die Vergangenheit teleportiert. Das Publikum dort bettelt geradezu darum, unter einem soziologischen Blickwinkel betrachtet zu werden. In dieser Welt gibt es noch stabile Männer mit Vokuhila-Frisur und Pornobart, die mit Aufnähern übersäte Jeanswesten tragen; da gibt es spindeldürre Frauen mit einer Haarpracht in Stile von Olivia Newton-John alias der verruchten Sandy in dem Film „Grease“ (1978); es gibt das etwa sechzigjährige Pärchen, beide silbergrau, beide in einschlägige Bandshirts gewandet, das vermutlich schon vor mehr als drei Jahrzehnten Heavy-Konzerte besucht hat. Und da gibt es den auch schon über fünfzigjährigen Chefarzt, der 170 Autobahnkilometer angereist ist, nachts wieder heimwärts fährt und am nächsten Morgen im Operationssaal steht.

Aktuelle Lektüre: „Der nasse Fisch“ von Volker Kutscher. Rätselhaft, wie ich dessen großartige Kriminalromane, die im Berlin der Weimarer Republik Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre spielen, bislang unbeachtet lassen konnte. Nun gilt es, Versäumtes nachzuholen.

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