© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/15 / 27. Februar 2015

Pankraz,
Bismarck und die Kunst des Möglichen

Bismarcks zweihundertster Geburtstag reift heran, am 1. April ist Stichtag, man muß sich auf einen Schub neuer Bismarck-Biographien einrichten. Den Anfang hat jetzt Christoph Nonn (50) gemacht, ein Düsseldorfer Historiker, der sich bisher vorzugsweise mit der Entindustrialisierung des Ruhrgebiets und mit der Migrationsgeschichte Nordrhein-Westfalens beschäftgt hat. Sein im Münchner Beck-Verlag erschienenes Buch „Bismarck. Ein Preuße und sein Jahrhundert“ (400 Seiten mit 50 Abbildungen, davon 25 in Farbe, 24,95 Euro) ist nicht gerade einladend und hoffentlich nicht typisch für das, was noch kommt.

Es geht dem Autor vor allem um „Entmythisierung“. Bismarck sei weder ein strahlender Held noch ein reaktionäres Monster gewesen, sondern ein Mensch gleichsam wie du und ich, mit Höhen und Tiefen, guten und weniger guten Eigenschaften. Und er werde von Nonn, wie der Verlag auf dem Waschzettel mitteilt, „zum ersten Mal konsequent in die europäische Geschichte des 19. Jahrhunderts eingeordnet, die durch wachsende internationale und globale Vernetzung geprägt war – wie unsere heutige Welt auch“.

Die Lektüre bestätigt die Verlagsansage leider nur allzu genau. Nonn ummantelt seinen Titelhelden derart dicht mit Zeitungs- und anderen Zeitgeistphrasen, daß man glauben könnte, der legendäre Reichskanzler sei ein schönes altes Wohnhaus gewesen, das man zwecks Wärmedämmung und Energieersparnis bis obenhin in Styropor einpacken müsse. Oder, um ein anderes Bild zu gebrauchen: Nonn walkt Bismarck durch, wie moderne Theaterregisseure Shakespeares „Hamlet“ oder Schillers „Jungfrau von Orléans“ durchwalken, damit sie endlich in den Begriffshorizont aktueller Gutmenschen hineinpassen.

Indessen wäre für ein neues, wünschbares Bismarck-Buch gerade das Gegenteil angebracht, nämlich eindrucksvoll zu zeigen, daß der Mann, von dem ja längst alle verfügbaren Daten bekannt sind, kein Wärmedämmer, sondern ein erstrangiger Wärmeentfalter und -ausbreiter gewesen ist, kein Energiesparer, sondern ein gewaltiger Energieerzeuger, dessen Taten und Ideen das alte Europa gründlich durchpflügten und weite Strecken von ihm mit Wärmestrahlen überzogen.

Dabei blieb er sein Leben lang Hamlet und Jungfrau von Orléans in einem, und zwar exakt so, wie sie uns von Shakespeare und Schiller überliefert sind, also ohne Eingriffe des berüchtigten Regietheaters. Wie die Jungfrau von Orléans, mit dem Einsatz aller nur denkbaren politischen Raffinessen und, wenn es sein mußte, mit „Blut und Eisen“, stritt er für die Einheit des Vaterlands, weil er wußte, daß es nur in dieser natürlichen Einheit ein selbständiges Subjekt im Spiel der neuzeitlichen Kräfte werde bleiben können, nicht zum bloßen Spielball herabsinke.

Andererseits rumorte in ihm stets der skeptische, zögerliche Hamlet, der um die heikle Dialektik von Sein und Nichtsein Bescheid weiß. Wie Prinz Hamlet war Bismarck davon überzeugt, daß die Zeit aus den Fugen ist und daß sie sich nur erträglich gestalten läßt, indem man die Fugen zu verkleinern versucht. Deshalb seine Taktik gegen den revolutionären Sozialismus seiner Zeit: „Sozialistengesetz“ einerseits, spektakuläre Sozialgesetzgebung, wohlorganisierte Kranken- und Altersversicherung andererseits. Der SPD-Gründer Lasalle war sein bevorzugter Ansprechpartner; auch zu Marx hat er Kontakte gesucht.

Mit der Wiedererschaffung des Reiches und der Herstellung privilegierter Beziehungen zu Österreich-Ungarn sah Bismarck die geopolitische Funktion Deutschlands in der Welt erfüllt. Er war gegen imperiale Ausgriffe, gegen „voreilige Kriegsbündnisse“ oder den Erwerb von Kolonien im angelsächsischen oder französischen Stil. Die forcierte Machtpolitik Kaiser Wilhems II. und dessen gelegentlich allzu flotte Rhetorik lehnte er ab, was schließlich zu seiner Entlassung als Reichskanzler führte. Bis in seine letzten Tage verfolgte ihn die Sorge um eine „Einkreisung“ Deutschlands durch mißgünstige Nachbarstaaten.

Sehr genau erkannte er, daß es den nach Reichtum strebenden Imperien nicht nur mehr um Landgewinn, Bodenschätze oder neue Absatzmärkte für ihre Produkte zu tun war, sondern auch und zunehmend um industrielle Potentiale, die in anderen Ländern heranwuchsen und dem eigenen Land zur unliebsamen Konkurrenz wurden. Hier sah er speziell für Deutschland größte Gefahren entstehen, denen schwer beizukommen war. „Ich kann meinen Deutschen“, seufzte er einmal – nach Auskunft seines langjährigen Sekretärs Lothar Bucher –, „doch nicht ihren Fleiß und ihren Einfallsreichtum verbieten!“

Religions- und Weltanschauungskriege hielt Otto von Bismarck für seit dem Westfälischen Frieden von 1648 „erledigt“; seinen eigenen zeitweiligen „Kulturkampf“ gegen den angeblich zu großen Einfluß der römisch-katholischen Kirche auf die Politik in Deutschland hat er – laut Bucher – selber nicht ganz ernst genommen, sah ihn als einen leicht satirischen, weil bald wieder verwehenden Nachhall des Dreißigjährigen Krieges. Für den heutigen Glaubenskrieg „Militanter Islam contra demokratischer Säkularismus“ hätte er wohl nur Verachtung und Ekel übrig gehabt.

Wie steht es also? Hat uns der Reichsgründer und „eiserne Kanzler“, der „weiße Revolutionär“ (Karl Kautsky), und „reaktionäre preußische Junker“ (Walter Ulbricht) heute noch etwas zu sagen? Oder können wir ihn getrost à la Professor Nonn als voll vernetzte europäische Gestalt des neunzehnten Jahrhunderts abheften und den Archivaren und Geschichtsbüchern überlassen?

Letzteres wäre eigentlich sehr schade, findet Pankraz. Bismarcks skrupelhafte und dabei doch im Ernstfall stets mutige und präzise Politik, sein Beharren auf dem einigen Reich und auf der Notwendigkeit maßvoller Interessenausgleiche machen ihn zu einem großen Vorbild auch für heutige Politiker. Man darf auf weitere Jubiläumsbücher gespannt sein.

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