© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/15 / 27. Februar 2015

Ein Ende mit Fracken?
Energieressourcen: Die Amerikaner wollen unabhängiger sein und die geopolitischen Karten neu mischen. Doch sie könnten sich verspekuliert haben
Michael Wiesberg

Es ist noch gar nicht so lange her, da rief die in Paris ansässige Internationale Energieagentur (IEA) die Vereinigten Staaten wegen der rasch wachsenden Förderung von Öl und Gas aus Schieferstein zum neuen „Saudi-Arabien“ aus. 2017, so die IEA, würden die Amerikaner die Saudis als weltgrößte Ölproduzenten abgelöst haben.

Aktuelle Zahlen haben die Einschätzung der IEA noch überboten: Die USA rückten bereits im vergangenen Jahr zum weltweit größten Erdgas- und Erdölproduzent auf. Präsident Barack Obamas im Januar 2012 verkündete Prognosen, daß der neue Energie-Boom mehr als „600.000 Jobs“ schaffen werde und die Erdgasreserven für „nahezu 100 Jahre reichen“, scheinen sich bewahrheitet zu haben.

Geringeres Engagement am Persischen Golf

Obama steht mit seinem Optimismus nicht allein. Selbst ein angesehener Energieexperte wie Daniel Yergin von der Beratungsfirma Cambridge Energy Research hatte bei Anhörungen im Kongreß in den Fracking-Jubelchor eingestimmt, als er erklärte: „Die USA sind mitten in einem unkonventionellen Öl- und Gas-Boom, der sich über die Energie selbst hinaus erstreckt.“ Yergin meinte damit die Millionen von Arbeitsplätzen, den zusätzlichen privaten Konsum dank fallender Benzinkosten sowie ins Land zurückkehrender Industrie.

Grund hierfür ist die umstrittene Fördermethode „Hydraulic Fracturing“ (zu deutsch: hydraulische Frakturierung), kurz „Fracking“ (JF 44/14) genannt, die erheblich dazu beiträgt, daß die Vereinigten Staaten zu einer neuen globalen Energie-Supermacht aufgestiegen sind – was mit entsprechenden geopolitischen Konsequenzen verbunden ist. Über diese Konsequenzen wurde im vergangenen Jahr in zwei Ausgaben der einflußreichen Fachzeitschrift Foreign Affairs räsoniert. Die von der Denkfabrik Council on Foreign Relations herausgegebene Zeitschrift gilt als „regierungsnah“ sowie als das Strategieorgan der amerikanischen Außenpolitik schlechthin.

Was verbinden Regierungskreise in Washington also mit dem Schlagwort von der „Geopolitik der Schiefergasrevolution“? Die erste Konsequenz, die der neue Rohstoffreichtum aus der Sicht der Autoren Robert D. Blackwill und Meghan L. O’Sullivan, die in der Ära von George W. Bush für den Nationalen Sicherheitsrat arbeiteten, mit sich bringt, besteht naheliegenderweise darin, daß die Vereinigten Staaten in Zukunft deutlich unabhängiger von Öl- und Gasimporten sein werden. Damit eröffneten sich außenpolitisch eine Reihe neuer Optionen, zum Beispiel mit Blick auf die Golfstaaten: Die deutliche Verringerung von Einfuhren aus dieser Region bedeutet, daß die USA den Persischen Golf nicht mehr so stark kontrollieren müßten, was Kräfte freisetze – der Fokus könnte nun auf die Asien-Pazifik-Region, insbesondere aber auf China gerichtet werden.

Das hat wiederum Folgen für die Außenpolitik der Europäer. Die EU müßte sich in einem derartigen Szenario mehr denn je bei der Sicherung der Golfregion engagieren. Liegt hier einer der Gründe für das Gerede von einer „neuen deutschen Außenpolitik“, von einem größeren Engagement Deutschlands in der Welt? Bundespräsident Joachim Gauck schloß dabei ausdrücklich ein entsprechendes „militärisches Engagement“ ein.

Rußlands Einfluß könnte bei fallenden Preisen sinken

Weitere gravierende geopolitische Umwälzungen dürften im Raum stehen, wenn die amerikanische Energiewirtschaft dazu übergehen sollte, im großen Stil Öl und Gas zu exportieren, was insbesondere für Rußland erhebliche Folgen haben wird, die bereits jetzt ihre Schatten vorauswerfen. Ein in diesem Zusammenhang gern zitiertes Beispiel ist das russische Schtokman-Erdgasfeld bei Murmansk in der arktischen Barentssee, das als eines der ergiebigsten der Welt gilt. 2007 vergab Moskau Lizenzen für ein „Joint Venture“, an dem die Konzerne Gazprom (Rußland), Total (Frankreich) und Statoil (Norwegen) beteiligt waren. Das Projekt wäre aber nur bei einem hohen Gaspreis rentabel gewesen, was durch den Fracking-Boom in Amerika und den zunehmenden Export von Flüssiggas aus Katar und Algerien (vor allem nach Westeuropa) konterkariert wurde. 2012 wurden die Arbeiten zur Erschließung dieses Gasfeldes schließlich auf „unbestimmte Zeit“ eingestellt.

Blackwill und O’Sullivan sehen prospektiv eine erhebliche Schwächung Rußlands durch die Schiefergas-Revolution; Rußland werde zwar ein wichtiger Energielieferant Europas bleiben, dürfte aber kaum mehr die bisherigen Erlöse erzielen. Mit Blick auf die fallenden russischen Einnahmen aus dem Öl- und Gasgeschäft spekulieren die beiden Autoren, daß dies „Rußlands politisches System destabilisieren“ könnte. Die Folge daraus könnte ein „sinkender Einfluß des russischen Präsidenten Putin“ sein, was dessen innenpolitischen Gegnern einen entsprechenden Aufwind brächte. Natürlich würde eine derartige Entwicklung das außenpolitische Gewicht Rußlands schwächen. Ähnliches gilt den Umständen entsprechend auch für die Opec-Staaten.

Im gleichen Maße sehen die Foreign- Affairs-Autoren das Gewicht der USA im Verbund mit Kanada und Australien, die einen ähnlichen Aufschwung durch Fracking verzeichnen, steigen. Dieses Gewicht würde durch Energieexporte nach beziehungsweise Fracking in Eu-ropa sowie durch das anvisierte transatlantische Freihandelsabkommen (TTIP) weiter zementiert. Rußland bliebe bei einem derartigen Szenario nur noch eine erheblich geschwächte Rolle; es müßte sich dann dem „transatlantischen Block“ gegenüber wesentlich „kooperativer“ als bisher verhalten.

Diesem reichlich (zweck-)optimistischen Szenario der amerikanischen Geostrategen stehen allerdings Fakten entgegen, die zu völlig anderen Schlußfolgerungen führen. Anfang Dezember 2014 veröffentlichte das englische Fachmagazin Nature einen Artikel („Erdgas: Der Fracking-Irrglaube“), in dem erhebliche Zweifel an den Prognosen der US-Energiebehörde EIA angemeldet werden: „Die Vereinigten Staaten verlassen sich für Jahrzehnte auf reichlich Erdgas, um ihre wirtschaftliche Wiederauferstehung zu befeuern. Doch das könnte Wunschdenken sein.“ Im folgenden werden die Daten referiert, die Wissenschaftler der Universität Texas in drei Jahren erhoben haben. Ihr Ergebnis: Der Höhepunkt der amerikanischen Erdgasproduktion wird nicht 2040 erreicht werden, sondern bereits 2020.

Für Unternehmen, die jetzt noch auf den Schiefergaszug aufsprängen, müsse ein „größeres Fiasko befürchtet werden“, erklärte Tad Patzek, Leiter der Abteilung Erdöl- und Geosystemtechnik an der Universität Texas. Die vier großen Schiefergasformationen der USA (Marcellus, Haynesville, Fayetteville und Barnett) würden nach Meinung der Wissenschaftler bis 2030 nur halb soviel Erdgas produzieren, wie von der EIA prognostiziert. Treffen diese Berechnungen zu, dann sind die ambitionierten Pläne, Schiefergas in großen Mengen zu exportieren, Makulatur.

Der Nature-Artikel ist keineswegs der erste kritische Zwischenruf: Bereits im Juni 2011 berichtete die New York Times darüber, daß „Insider“ hinter vorgehaltener Hand die Meinung äußerten, daß die „Ölfirmen bewußt und sogar in strafbarer Weise überhöhte Angaben zur Produktivität ihrer Bohrungen und der Größe der Lagerstätten machten“. In eine ähnliche Richtung argumentierte kurz darauf die Petroleum Review, die führende Zeitschrift der britischen Ölindustrie, in der „begründete Zweifel an der Verfügbarkeit und Nachhaltigkeit der US-Schiefergasreserven“ erhoben wurden. Die Autoren des Artikels orteten überhöhte Angaben der amerikanischen Konzerne, die damit von den Risiken der Ausbeutung ablenken wollten. Die Fracking-Methode werfe nicht nur Fragen im Hinblick auf den Umweltschutz auf, sondern sei auch wirtschaftlich zweifelhaft.

Ein Fachmann wie der Geologe Arthur Berman, der für den Konzern Amoco arbeitete, wunderte sich in einem Interview auf den Netzseiten von „oilprice.com“ mit Blick auf das Schieferölfeld Eagle Ford in Texas darüber, in welch „unglaublich hohem Tempo“ sich die Schiefergas/-ölquellen erschöpften. Um die Gesamtfördermenge stabil zu halten, müßten „jedes Jahr fast 1.000 neue Bohrungen im selben Fördergebiet durchgeführt werden“, was Kosten von jährlich 10 bis 12 Milliarden Dollar mit sich brächte. Mit Sorge stellt Berman die Frage in den Raum, woher dieses Geld auf Dauer kommen solle.

Als Reaktion senken die Saudis den Ölpreis

Nach Aussage des Analysten John Dizard in der Financial Times (Mai 2012) würde „zuviel Geld zu unübersichtlichen und problematischen Konditionen ausgeliehen“. Anstatt die Schiefergasbranche auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen, stelle die Wall Street immer „neue Schecks mit vielen Nullen aus“. Die wachsende Abhängigkeit der Vereinigten Staaten vom Schiefergas-Boom werde dafür sorgen, daß die Spekulationsblase weiter anschwillt. Dizard sieht deshalb größere finanzielle Turbulenzen heraufziehen, die Insolvenzen und Übernahmen zur Folge haben könnten. Die Preise müßten sich, da sich die Schiefergasquellen schneller als konventionelle Quellen erschöpften, nach Auffassung von Dizard „erheblich“ nach oben bewegen, um die Produktionskosten zu decken.

In Saudi-Arabien hat man das Dilemma, in dem Amerikas Schiefergasförderung steckt, erkannt und mit einer ungewöhnlichen Maßnahme reagiert: Das Königreich senkte den Ölpreis – allerdings nur für die USA. Mit dieser Maßnahme soll der Ölpreis für längere Zeit deutlich unter 80 Dollar pro Barrel gehalten werden. Darüber hinaus haben die Saudis, wie sonst üblich, die Fördermenge diesmal nicht gedrosselt, um den Preis zu stabilisieren; sie wollen damit das Geschäft für die Förderer in den Staaten unrentabel machen. Saudi-Arabiens Ölminister Ali al-Naimi verwies darauf, daß sein Land auch bei niedrigsten Preisen noch Gewinn mache.

In Amerika indes sieht das anders aus: Hier liegen die Förderprojekte in privater Hand und sind „auf Pump finanziert“ (Die Welt). Bei einem Konkurs sind sie definitiv aus dem Spiel. Bei welchem Marktpreis pro Barrel die kritische Schwelle für die dortigen Produzenten liegt, wird sich noch weisen.

Es deutet vieles darauf hin, daß die enormen Erschöpfungsraten bei den Bohrquellen den Traum der Amerikaner, die Energiekarten geopolitisch neu zu mischen, bis Ende des Jahrzehnts unsanft beenden werden. Das dürfte mit einer veritablen Finanzkrise einhergehen, die der von 2008 in nichts nachsteht. Viele Banken haben nämlich Papiere auf der Basis erwarteter Gas- und Ölgewinne geschnürt, die wohl nicht zu realisieren sein werden. Das Platzen dieser Spekulationsblase könnte die Weltwirtschaft nachhaltig erschüttern.

 

Erdöl: Wer hat’s, wer braucht’s?

Wachstum braucht Energie. Der spektakuläre wirtschaftliche Aufstieg der Schwellenländer geht vor allem mit einem drastischen Anstieg beim Verbrauch von Erdöl einher. Heutzutage führen etwa China und Indien zusammen mehr Rohöl ein als die Staaten der EU, die dieser Import insgesamt 200 Milliarden Euro pro Jahr kostet.

Noch 1990 verbrauchten die damals 24 Mitgliedsstaaten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) 60 Prozent der weltweiten Ölproduktion. 2010 lag der Anteil der inzwischen 34 OECD-Staaten bei nur noch 49 Prozent. Während in diesem Zeitraum der Rohölimport der USA um acht Prozent stieg, erhöhte sich jener der Entwicklungs und Schwellenländer um 57 Prozent.

Wer weniger Energie hat, als er braucht, ist abhängig von anderen. Netto-Exporteure von Rohöl sind weiterhin die Staaten Mittel- und Südamerikas, Afrikas sowie Rußland und – als Haupt-Exporteur – der Mittlere Osten (siehe Karte). Optimistische Prognosen sagen Nordamerika eine künftige Energie-Autarkie voraus, wobei hierfür die Teersand-Vorkommen in Kanada maßgeblich sein dürften.

Foto: Bohrtürme (Collage) in Amerika: Mit Fracking wollen die Vereinigten Staaten zur Energie-Supermacht aufsteigen

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