© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  09/15 / 20. Februar 2015

Putins Spielraum ist begrenzt
Rußland: Die wirtschaftliche Schwäche des Riesenreiches setzt dem Machiavellismus seiner Führung klare Grenzen
Christoph Braunschweig

Der russische Etat war bisher weitgehend ausgeglichen – wovon die meisten überschuldeten westlichen Wohlfahrtsstaaten mit ihrem keynesianischen Modell der „Wählerbestechungsdemokratie“ nur träumen können. Doch ein drastisch gesunkener Ölpreis, der Kursverfall des Rubels und die westlichen Sanktionen lassen nun die russische Volkswirtschaft regelrecht abschmieren. Lange werde Präsident Wladimir Putin seinen Kurs nicht mehr durchhalten können, mutmaßen westliche Medien. Vom Staatsbankrott ist bereits die Rede. Die schon sprichwörtliche Leidensfähigkeit des russischen Volkes wird dabei wieder auf eine harte Probe gestellt. Dennoch verfügt Putin immer noch über einen relativ großen Rückhalt vor allem beim einfachen Volk, dessen Geduld der Westen wiederum unterschätzt.

Eine Handelsbilanz wie die eines Drittweltlandes

Rußland ist der größte Goldproduzent der Welt nach China und verfügt zudem über enorme Goldreserven. Daneben verfügt Moskau auch immer noch über große Mengen an Währungsreserven – vor allem in US-Dollar. Rußland trennt sich allerdings seit einiger Zeit systematisch von diesen Papiergeld-Reserven und kauft dafür physisches Gold. Ebenso trennt sich die Zentralbank (Bank Rossii) langsam aber sicher von ihren US-Staatsanleihen. In den letzten beiden Jahren ist dieser Bestand von rund 140 auf etwa 110 Milliarden US-Dollar abgebaut worden.

Im Bereich von Rohstoffen und Energie ist die Russische Föderation eine „Weltmacht“. Aber die reichen Bodenschätzen zu heben gelingt nur mit westlicher Technologie und riesigen Investitionen aus dem Ausland. Die Struktur der russischen Exporte ist zudem sehr einseitig: Rund 75 Prozent entfallen auf Öl und Gas – das ist die Handelsbilanz eines Drittweltlandes. Ist der Ölpreis niedrig wie derzeit, wird Rußland mitten ins Herz getroffen. Der dadurch mitverursachte Verfall des Rubels zeigt seine Wirkungen: Goldman Sachs zufolge sind 2014 netto gut 60 Milliarden US-Dollar Privatkapital ins Ausland abgeflossen. Die Oligarchen mißtrauen der Moskauer Führung und investieren ihre Gelder lieber in London, wodurch die dortige Immobilienblase weiter aufgepumpt wird. Auch in der Schweiz, in Österreich oder in Südfrankreich wird russisches Oligarchengeld geparkt. Selbst Putin soll sich laut einer Meldung der Schweizer Finews für 15 Millionen Pfund ein 4.000-Quadratmeter-Anwesen im 900 Hektar großen Luxus-Resort „Club de Campo La Zagaleta“ in der Nähe von Marbella in Spanien gekauft haben. Solche Investments werden meist diskret über Strohfirmen abgewickelt – nach dem Motto: der Westen leuchtet!

Die Wirtschaftskraft Rußlands ist vergleichsweise marginal. Im Zehnjahreszeitraum von 2003 bis 2012 erzielte Rußland ein Exportvolumen in Höhe von 3,43 Billionen US-Dollar, China erreichte 12,14 Billionen Dollar, Deutschland 11,89 Billionen Dollar und die USA 11,38 Billionen Dollar. Rußland ist ein industrielles Entwicklungsland und insgesamt vergleichsweise arm. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf macht nur einen Bruchteil im Vergleich zu den USA oder der EU aus. Mehr Wirtschaftskraft läßt der zentralistische Staatskapitalismus eben nicht zu.

Es ist, wie es immer schon war: Rußland ist ein überdehntes, untervölkertes, überanstrengtes, armes, rauhes und korruptes Land. Zudem ist die demographische Entwicklung verheerend: Von heute 143 Millionen (ohne Krim) könnte sich die Bevölkerungszahl bis zum Jahr 2025 auf etwa 120 Millionen verringern. Die durchschnittliche Lebenserwartung der Männer liegt klar unter dem Durchschnitt der entwickelten Länder – der Alkoholkonsum fordert seinen Tribut.

Putin war nicht in der Lage, Rußland in einen modernen Nationalstaat zu überführen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gab es kein Übergangsprogramm von der Kommando- zur Marktwirtschaft. Das russische Wirtschaftssystem gleicht heute einer Version des Keynesianismus: Die staatliche Zentralbank und die Staatsbürokratie bestimmen das Geschehen. Es ist ein Günstlingskapitalismus entstanden, der an die alte sowjetische Bürokratie angeheftet wurde, die einst Lenin wiederum an die zaristische Bürokratie angeheftet hatte. So ist Rußland weiterhin eine von Grund auf bürokratische Wirtschaft, geführt von oben nach unten. Um eine Wirtschaftsmacht zu werden, müßte Rußland in vielen Bereichen genau das Gegenteil dessen tun, was es tut. Die meisten Bedingungen für Innovation, Wachstum und Massenwohlstand erfüllt Rußland nicht: Rechtsstaatlichkeit, unabhängige Justiz, Pressefreiheit, garantierte Eigentumsrechte, Vertragsfreiheit, Ordnungspolitik, marktwirtschaftlicher Leistungswettbewerb auf freien Märkten, eine langfristig berechenbare Politik und vor allem: keine Korruption.

Einzelne Leuchtturmprojekte, desolate Gesamtsituation

In Rußland herrschen faktisch feudal-kriminelle Strukturen: Während sie sich selbst als Patrioten und Generäle gerieren, setzen die Mitglieder der Führungsschicht ihre Söhne an die Spitze von Banken und Unternehmen. Als Profiteure dieses mafiösen Feudalismus kennen sie keinerlei Skrupel. Die Innovationskraft der russischen Wirtschaft liegt nur bei drei Promille der deutschen Patentaktivität. Der Effizienzmangel der russischen Wirtschaft ist unübersehbar. Selbst durch umfangreichen Transfer aus dem Ausland kann die Technologie-Lücke nicht geschlossen werden.

Die Untervölkerung und die Überdehnung des Landes lassen keine durchgängige Infrastruktur und keine geschlossenen Wertschöpfungsketten im Sinne einer marktwirtschaftlichen Ressourcenallokation zu. Einzelne Leuchtturmprojekte – etwa im Militär- und Raumfahrtbereich – sowie die beiden Großräume Moskau und Sankt Petersburg ändern nichts an der desolaten Gesamtsituation. Und reines Kopieren sollte nicht mit Modernisieren verwechselt werden – im Gegensatz zu China, das bereits die Entwicklungsstufe vom Kopieren zur selbständigen Produktentwicklung erreicht hat.

Für den Kreml stehen zudem einseitig geostrategisch-politische Überlegungen im Vordergrund. Als Ergebnis bindet sich das Land einen finanziellen Klotz nach dem anderen ans Bein. Alleine die Krim kostet Moskau täglich einen Millionenbetrag. Vor allem fehlt es in Rußland an marktwirtschaftlich geschultem Humankapital: Wenn sich politische Figuren über Nacht zu „Unternehmern“ erklären oder wenn wirtschaftliche Führungskräfte unter Rückgriff auf alte Seilschaften installiert werden, dann entsteht nur eine wirtschaftlich ineffiziente Mafia-Ökonomie und ein neuer, politisch verfilzter militärisch-ökonomischer Komplex.

Es fehlt in Rußland nicht nur Realkapital, sondern auch an dem für eine Marktwirtschaft unerläßlichen Humankapital. Unter Stalin wurden ganze Volksschichten – Bauern, Kaufleute, Unternehmer – vernichtet, wenn sie nicht schon in den Gemetzeln der Revolutionsjahre starben. Jahrzehntelang herrschten Funktionäre und Politbonzen über ein Volk von Knechten und Befehlsempfängern. Woher soll da unternehmerisches Talent für eine funktionierende Marktwirtschaft kommen?

Was sich „Privatisierung“ nennt, ist – wie in anderen früheren Ostblockstaaten – ein Verschiebebahnhof für die ehemaligen Politeliten, ein Trauerspiel nach dem Motto: „Von der Ausbeutung durch politische Verbrecher zur Ausbeutung durch private Verbrecher“. Wie soll da die Friedensordnung des Marktes entstehen? Marktwirtschaftliche Reformen können nur mit einer funktionierenden Zivilgesellschaft gelingen, wußte schon der Wirtschaftsnobelpreisträger Friedrich August von Hayek.

Sanktionen schaden Rußland und Deutschland

Statt sich in erster Linie auf den langen und dornigen Weg zum Aufbau einer bürgerlichen Gesellschaft und einer Marktwirtschaft zu machen, verfällt der Kreml wieder in die alten Muster militärischer Kraftmeierei und Befeuerung der slawischen Geisteswelt. Es gehört offenbar zur Idiosynkrasie Rußlands, sich die Realität so zurechtzubiegen, wie es das verkrampfte Selbstbewußtsein erfordert.

Putins Form des Nationalismus (in Form der Betonung der Tradition der Slawophilen), die staatsnahe orthodoxe Kirche und die pathologische Fixierung auf das „Keiner mag uns“ führen Rußland auf den abschüssigen Weg in eine xenophobe Ethnokratie.

Es gibt Kreise im Kreml, die eine nationalistische, auf der Orthodoxie beruhende Staatsideologie anstreben. Diese rückwärtsgewandte Entwicklung muß auch die echten Freunde Rußlands bekümmern. Vermutlich war die Integration Rußlands in den Westen von vornherein eine Illusion. Der Westen hatte vergessen, daß die Russen keine Neigung haben, Regeln anzunehmen, sie wollen Regeln setzen. Es gab zwar in den neunziger Jahren eine Demokratisierung, und viele Investoren und Politiker glaubten auch, daß sich die russischen Märkte öffnen würden. Aber bald kehrte die alte Machtpolitik zurück. Und für den Kreml ist Außenpolitik ein Nullsummenspiel: Du gewinnst, ich verliere.

Ob die jetzigen Wirtschaftssanktionen gegen Rußland sinnvoll sind, ist strittig. Die USA fordern noch weitere, verschärfte Sanktionen – wohlwissend, daß die amerikanische Wirtschaft davon kaum betroffen ist. Es entsteht, sowohl für Rußland als auch für die EU und insbesondere für Deutschland, ein großer wirtschaftlicher Schaden. Der Westen treibt Moskau mit den Sanktionen fatalerweise in die weit ausgebreiteten Arme Pekings, was eine geostrategische Dummheit ohnegleichen darstellt – zumal China sicher nicht der Wunschpartner Rußlands sein kann.

Moskau sieht sich in der Defensive gegenüber einer westlichen Vorwärtsstrategie, die russische Sicherheitsinteressen gefährdet. Die Nato in Kiew ist für Rußland eine Horrorvision. Die russisch-ukrainische Beziehung ist für Osteuropa, was die deutsch-französische Beziehung für Westeuropa ist. Und so wie diese den Kern der EU bildet, ist jene der unabdingbare Kern für den Zusammenhalt der orthodoxen Welt.

Der Verteidigungsetat Rußlands liegt mit 4,4 Prozent vom BIP prozentual genauso hoch wie der in den USA. In Deutschland sind es hingegen nur 1,4 Prozent. Allerdings kann sich Rußland auf Dauer solch hohe Rüstungsausgaben nicht leisten. Ein Staatsbankrott ist derzeit nicht zu erwarten, aber langfristig wird die mangelnde Wirtschaftskraft Rußlands seine politisch-militärischen Handlungsspielräume begrenzen.

Foto: Umzugshelfer: Typische Szene aus dem Moskau dieser Tage – Anastasia Iswolski (links) schaut zu, wie ein Sofa aus der Konkursmasse eines Nobelrestaurants geliefert wird (Januar 2015)

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